Anna Jedro – zehn Jahrzehnte Leiper Leben
Familienidylle im Spreewalddorf Leipe Ende der 1920er Jahre: Im sonnigen Hof haben sich die Schwestern Anna, Marie und Else Grogorick aufgestellt und strahlen den Fotografen an. Die Älteste, Lotte, fehlt auf dem Foto, sie musste dem Vater Gustav auf dem Feld helfen. Der vor den Kindern postierte Mischlingshund Ally schlappert seine Milch und schert sich nicht weiter um das Geschehen. In der dunklen Haustür steht Mutter Marie mit einer Tasse Malzkaffee in der Hand und beobachtet die Szene aus der Ferne. Eigentlich will sie nicht auf das Foto, sie lässt ihren Töchtern den Vortritt, aber geschickt hat sie der Fotograf doch noch ins Bild bekommen. Die zweitälteste Schwester trägt die wendische Tracht des Lübbenauer Kirchspiels, sie ist barfuß wie auch ihre jüngeren Geschwister in ihren luftigen Sommerkleidchen. „Ich hätte für das Foto gern Tracht angehabt, aber wir hatten nur die eine und die passte auch nur meinen großen Schwestern. Wir Jüngeren gingen in ‚Bürger'sch‘ wie es damals hieß“, erinnert sich Anna, die 1917 Geborene. Sie kann sich noch sehr gut an diese Zeit erinnern und auch an die vielen schönen Feste im Dorf und in der Familie: „Ostern, das wichtigste Fest für uns Wenden, hatte einen besonderen Zauber und Reiz. Neben den Eiern, Süßigkeiten und den Patengeschenken, den Pingeln, war es der Brauch des Osterwasserholens, den unsere Mutter jährlich pflegte und der uns beeindruckte. Pünktlich um Mitternacht fuhr sie in ihrer besseren Tracht, wie sie sie nannte und ganz allein mit dem Kahn, darin nur zwei Wassereimer, in die Grobla um an der tiefsten Stelle das Wasser zu schöpfen. Am Ostersonntagmorgen wusch sie uns Kindern damit gründlich das Gesicht und sprach dabei von einem langen Leben. Irgendwie muss es auch geholfen haben, den wir haben alle die Neunzig überschritten.“
Zwischen Servieren und Kühe melken
Nach ihrer Hochzeit mit Fritz Jedro 1938 zog sie lediglich von einer Leip’schen Inselseite auf die andere. Ihr Dorf hat sie nie wirklich verlassen, wie auch ihr ganzes Leben durch Arbeit in der Landwirtschaft gekennzeichnet war. Kindheit und Jugend verbrachte sie, wie allen anderen auch, auf Kahn, Acker und Wiese. Schon frühzeitig lernte sie Staken und fuhr nach der Schule mit Essen und Trinken im Kahn zu den Eltern auf die Wiesen und Felder. Sie half bei der Heuernte und schob abends den mit Futter für die Tiere beladenen Kahn über Grobla und Sapola und die anderen Leiper Fließe nach Hause. Nach der Schulzeit erfolgte eine kurze Anstellung bei Lübbenauer Fleischer Claudius, um dann die Sommer über in der Spreewald-Gastronomie auszuhelfen. „Vom damals beim Fleischer verdienten Geld, 75 Reichsmark, habe ich mir für 76 Mark ein Fahrrad gekauft. Damit konnte ich dann täglich von Leipe zur Wotschofska fahren. In der Ausflugsgaststätte habe ich in Tracht die Gäste bedient“, berichtet Anna Jedro aus dieser Zeit. Anders war es dann später in der Pohlenzschänke, wo sie nur mit dem Kahn hin kam. „Wir sind dann acht Tage auf der Arbeit gewesen und haben dort geschlafen und blieben dann 8 Tage zuhause. In dieser Zeit war ich dann wieder die mithelfende Landwirtin in der Elternwirtschaft.“ Sie kann sich noch gut an die vielen betuchten Ausflügler erinnern, die sich gern mit ihr in ihrer Tracht fotografieren ließen. „Einmal hatte ich schon Feierabend, war umgezogen und wollte heim nach Leipe staken, aber ein Engländer wollte unbedingt ein Foto mit mir in Tracht haben. Also wieder raus aus dem Kahn und rein in die Tracht - die 20 Mark Trinkgeld, die ich dafür bekam, waren bei mir damals gut angelegt“, freut sie sich noch heute über den unerwarteten Geldsegen.
Ihren Fritz, einen Nachbarssohn, lernte sie eher beiläufig und ganz unspektakulär kennen und lieben. Der Ältere nahm die damals noch nicht Sechzehnjährige manchmal zu den Tanzvergnügungen mit, aber sie durfte nicht in die Gaststätte hinein. „Auf dem Dorf wurde peinlichst darauf geachtet, so blieb uns Jüngeren nur der Blick durch die Fenster um zu sehen, wer mit wem und wie tanzte. Mein Freund brachte mich dann nach einiger Zeit des Zuguckens nach Hause – um gleich selbst wieder zum Tanz zu gehen“, erinnert sie sich an die dörflichen Feste. Sie erlebte im Jahreslauf die dörflich-wendischen Rituale, wie sie damals ganz selbstverständlich waren und heute Tradition genannt werden. In Leipe durften nur die jungen unverheirateten Männer Zampern gehen. In schwarzen Anzügen mit weißen Hemd, Krawatte und Hut mit Sträußchen machten sie jedem Hof ihre Aufwartung. Gab es heiratsfähige Töchter im Haus, verweilte der Zug etwas länger dort und wurde von den Eltern bewirtet. Am Abend wurden dann die erzamperten Eier verspeist, eine Blaskapelle spielte zum Tanz.
Ein normales Leben im Spreewalddorf, heute Tradition genannt
Die Mädchen verbrachten im Winter einen Abend jeder Woche in der Spinnte. „Wir hatten beim Bauern Koalick ein Zimmer gemietet und trafen uns dort zum Stricken. Als Dank für die warme Stube haben wir ihm später bei der Kartoffelernte geholfen.“ Gern, aber mit einem bitteren Nachgeschmack, erinnert sie sich an einen der ganz wenigen Ausflüge, die sie mal aus Leipe heraus führten. „Sechs Mädchen wurden 1933 von der NS-Landjugend eingeladen, den Spreewald beim Erntedankfest auf dem Bückeberg bei Hameln zu vertreten. In unseren schmucken Trachten erregten wir großes Aufsehen, viele Politikgrößen der damaligen Zeit ließen sich mit uns fotografieren, darunter auch der oberste Führer. Genau diese Leute hatten letztlich Schuld am Untergang und auch an der Tatsache, dass ich meinen Mann lange Zeit entbehren musste. Gerade mal ein Jahr verheiratet, erreichte mein Fritz an einem Juliabend 1939 der Gestellungsbefehl der ihn mir am nächsten Morgen für sechs Jahre nahm und der mir die schwere Arbeit in der Landwirtschaft, schwanger mit unserem ersten Kind, überließ.“
„Ohne ‚Hans‘ wäre es schwer gewesen“
Anfangs musste sie sich mit gelegentlicher Unterstützung durch Eltern und Schwiegereltern, aber doch meist oft auf sich allein gestellt, plagen. Anna Jedro schwang die Sense wie ein Mann und mähte mit anderen Frauen ganze Wiesen ab um Heu für den Winter zu haben. Sie schob den schweren Ernte-Kahn durch die Fließe und hatte den Betrieb im Griff. „Ich bekam später Unterstützung durch einen polnischen Zwangsarbeiter, der Zeczlaw oder so ähnlich hieß, den ich aber bald nur ‚Hans‘ nannte, was dieser verständnisvoll lächelnd hinnahm. Der war ein ganz netter und hilfsbereiter Mensch, der sich auch um Töchterchen Hilde kümmerte.“ In der Leiper Dorfschule waren Kriegsgefangene untergebracht, die zusätzlich nach Anforderung für Feldarbeiten zur Verfügung standen. Deren Hilfe wurde von den von Frauen geführten Betrieben oft in Anspruch genommen. Zum Kriegsende hin verschlimmerte sich die Situation der Leiper. Von überall her kamen Flüchtlinge, die in der Abgeschiedenheit des Spreewalddorfes Schutz suchten. „Wir haben damals 45 Personen mehrere Tage auf dem Hof gehabt, darunter die Lübbenauer Gastwirtsfamilie Moshacke, und sind mit ihnen auf Kähnen, in einem das Bettchen meiner Tochter Hilde, in die inneren Wälder des Spreewaldes geflohen. Immer wieder dröhnten die russischen Flugzeuge über unseren Köpfen, wir wurden aber nie beschossen“, erinnert sie sich an die schlimmen Tage des Kriegsendes. „Wenigstens haben wir keinen Hunger gelitten, denn Moshackes hatten alle Lebensmittel aus der Gaststätte mitgebracht, und auch den guten Schnaps. Als wir hörten, das die Russen überall danach suchten, um sich zu betrinken und dann manchmal Frauen vergewaltigten, habe ich jede Flasche einzeln im Modder versenkt – und später auch alle wiedergefunden“, freut sie sich noch heute über ihren gelungenen Streich. In ihrem Haus hatten sich Tage später zwei Funker niedergelassen, die ihre Station auf dem Wohnzimmertisch aufbauten, „genau auf dem Tisch, an dem wir gerade sitzen“, erzählt sie. „Das waren ganz anständige Menschen, sie waren höflich und baten immer wieder um Speckstullen, die wir ihnen gern machten. Wir wollten sie versöhnlich stimmen und das schien uns gut gelungen zu sein.“ Ein Sowjet-Soldat hatte sich in die Nachbarstochter verliebt und warb um sie. Er war es auch, der die Dorfbevölkerung vor den immer wieder vorkommenden Razzien seiner Landsleute warnte. Alles – Fahrräder, Uhren und Frauen- konnte so rechtzeitig versteckt werden. Durch den Dienst des verliebten Russen kam Leipe relativ ungeschoren durch die Nachkriegswochen!
Als wäre es gestern gewesen, berichtet Anna Jedro über eine vor vielen Jahrzehnten zurück liegende Zeit. Die aufregenden Kriegsjahre, aber auch die schönen Zeiten mit ihren Festen und Feiern haben sich bei ihr fest eingeprägt. Nach dem Krieg wurde noch Sohn Manfred geboren. Mit seiner Frau Marlene lebt dieser nun auf dem Hof, beide schauen immer wieder mal nach der betagten Dame. Die ist aber immer noch gut drauf: „Ich kann nicht anders, ich nehm mir meinen Stock und gehe in den Garten. Mein Gemüse baue ich mir immer noch selbst an, auch wenn das Arbeiten ein wenig umständlicher geworden ist und länger dauert.“ Die langen Winterabende verbringt sie, wie früher schon in der Spinnte, mit Stricken – und benötigt dafür nicht mal eine Brille („Die habe ich nur zum Fernsehen, sonst brauche ich keine.“). Stolz zeigt sie die vielen Paar Wollsocken, darunter auch drei kleine Paare: „Die sind für meine Urenkel, die Drillinge!“
Anna Jedro verstarb am 06.10.2013
Biersuppe – für heiße Tage
0,5 Liter |
Malzbier mit je einer Prise |
Salz und Zucker |
vorsichtig aufkochen. |
2 Eier |
in etwas kaltem Wasser mit |
2 EL Mehl |
verquirlen. Mit geriebener |
Muskatnuss |
und einem |
Päckchen Vanillezucker |
zum Malzbier geben und noch einmal kurz aufkochen. |
2 Scheiben Weißbrot |
in Würfel schneiden und in einer Pfanne mit |
50 – 60 g Butter |
leicht anbräunen. |
Die Biersuppe wird in tiefen Tellern serviert, darauf kommen die gerösteten Brotwürfel.
Peter Becker/peb1, 08.04.2011
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