„Halt! Noch nicht losfahren, der Arwed fehlt noch!“ Das polnische Nachbarmädchen, dorthin zwangsverpflichtet, stellte den Verlust des Dreijährigen fest, als am 25. Juni 1945 die Familie Franke innerhalb von Minuten ihres Hofes in Schweinitz, Kreis Grünberg gelegen, verwiesen wurde. Das urplötzlich hereingebrochene Unglück, die entsetzte Mutter, die panischen Großeltern und die lauten Kommandos der mit Knüppel bewaffneten polnischen Neusiedler – all das wollte der kleine Arwed nicht hören und nicht sehen. Er hatte sich in der Futterkammer unterm Heu versteckt und wurde erst nach langem Suchen gefunden. Die Vertreibung aus dem Jahrhunderte alten Besitz konnte die Familie nicht überwinden, letztlich nicht bis zum Tod. Die Großeltern haben das neue Zuhause, ein Barackenzimmer in Lübbenau, nur wenige Wochen überlebt. Erst mit dem Bezug eines vom Bruder Helmut Franke mühevoll errichteten Hauses änderte sich 1965 die Wohnsituation für die Familie. Der kleine Arwed wuchs ganz selbstverständlich in die neue Welt hinein und nahm sie an: Tante Berta hatte in Lehde Unterschlupf gefunden, direkt am Wasser. „Ich war häufig bei ihr, stand schon mit sechs Jahren im Kahn meines Cousins Ernst Hirthe und wollte unbedingt Kahnfährmann werden“, erinnert sich Arwed Franke an Kindheit und Jugend auf und am Wasser. Neben der Schule verfolgte er konsequent sein Ziel, wurde schon mit 14 Jahren Hilfsfährmann. Er kaufte sich für 200 Mark einen gebrauchten Kahn. Das Geld hatte er sich durch Paddelboote säubern mühselig verdient. Beim Kahnbauer Kolkwitz wollte er sich 1960 einen neuen Kahn fertigen lassen. Der hatte aber keine Zeit, er musste ins Heu. Arwed bettelte und übernahm für ihn die Heuarbeiten auf der Wiese, so dass der Meister in der Werkstatt arbeiten konnte. Für stolze 1200 Mark wechselte dann der Kahn seinen Besitzer. Fast wäre die Ausgabe eine Fehlinvestition geworden, denn sein Freund und Kollege Martin Faustmann versuchte ihn am Abend des 12. August 1961, zur gemeinsamen Flucht nach Westberlin zu bewegen. Arwed Franke überlegte nur kurz: „Nein, den Spreewald und meine Familie verlasse ich nicht!“
Arwed hatte inzwischen in Calau Elektro-Monteur gelernt und arbeitete danach im Kraftwerk Lübbenau als Schaltermonteur. Hier lernte er die E-Monteuerin Renate kennen, die spätere Frau und Mutter von Karsten (1967) und Steffen Franke (1972). Karsten betreibt heute den „Heuschober“ in der Lübbenauer Altstadt und Steffen Franke ist Vorstandsvorsitzender der Kahnfährgenossenschaft Großer Hafen Lübbenau. In die Kennenlern- und Familiengründungsphase fiel der Hausbau in der Gerbergasse. Unter unsagbar schweren Bedingungen wurde Stück für Stück gebaut, Stein für Stein verarbeitet. Arwed Franke: „Als es wieder einmal besonders knapp mit Material war, gab mir ein Urlauber beim Kahnfahren den Tipp, wo es Zement gibt. Mit einem geborgten Trabbi haben wir dann fünf Zentner in Dresden geholt!“ Nach der Arbeit im Kraftwerk, bei Zwangspausen am Bau, im Urlaub - immer wieder stand er im Kahn und stakte Touristen durch den Spreewald.
In einer Zeit, in der Erfindertum und Beziehungspflege notwendig war, um Mängel aller Art zu kompensieren, begann Arwed Franke über einen Kahn aus Kunststoff zu sinnieren. Holz war in Zeiten der Mangelwirtschaft als Baumaterial für Kähne ein äußerst knappes Gut. Polyester und Kunstharz schienen reichlich vorhanden, die Paddelboote waren ja auch aus diesem Material. Mit Bruder Manfred machte Arwed sich eines Tages an die Arbeit: Von einem Holzkahn wurde eine Blechform abgenommen und diese Schicht für Schicht mit Polyesterflies und Kunstharz belegt. Zehn Lagen sollten es am Schluss sein, der äußeren wurde rote Farbe beigemischt, die dann dem Kahn das farbenfrohe Aussehen gaben. Arwed und Renate Franke fertigten aus den gleichen Materialien die Sitzbänke und am 5. September 1976 war Stapellauf. Die Abnahmekommission des Ministerrats bescheinigte dem Kahn und seinen Erbauern eine erstklassige Qualität. „Dadurch ist eine Ablösung der immer unökonomischer werdenden Materialien Aluminium und Holz zukünftig möglich“, hieß es in der Zulassungsurkunde. Trotz weiterer und von außen hereingetragener Versuche vor und nach der Wende, sollte es bei dem einen gelungenen Vollplastikkahn bleiben. Er ist immer noch im Spreewald unterwegs, inzwischen schwarz angestrichen und auf den ersten Blick von Holzkähnen nicht zu unterscheiden.
Unter Federführung der Kahnfährmänner Franke, Keinitz und Kutzke entstand ein Jahr später, 1977, die erste Richtlinie zu Bau und Ausrüstung von Personenkähnen. Darin wurden auch die Sitzabstände und – höhen festgelegt. Die Maße wurden in Bussen und Flugzeugen ermittelt. Nicht alle Fährleute waren anfangs damit einverstanden, einige sahen es als Platzverschwendung an. Letztlich mussten sie sich den von den Genossenschaften erlassenen Statuten fügen. Anfangs nur für Lübbenau gedacht, wurde diese Regelung später von allen Kahnfährgenossenschaften übernommen.
Jeder der einen Kahn und eine genossenschaftliche Prüfung abgelegt hatte, durfte Fahrten anbieten und durchführen. Niemand kontrollierte das. Ein Kahnuntergang 1981 an einer Schleuse bei Lübben mit Personen- und Sachschaden, verursacht durch einen angetrunkenen Fährmann, sollte diese Situation grundlegend verändern. Im Gerichtsprozess wurde deutlich, dass es für das Führen der Kähne keine staatlichen Vorschriften gab und wie dringend hier Reglungen herbeigeführt werden müssen. Seit dieser Zeit müssen Schulungen besucht und Prüfungen abgelegt werden. Arwed Franke wurde 1984 in die neu gegründete Prüfungskommission berufen, weil er unter den ersten Prüflingen war und mit viel Wissen und Sachverstand aufwarten konnte. An der Ausarbeitung der 40 Prüfungsfragen, für Motorkähne waren es 60, war er maßgeblich beteiligt. Im Rahmen von Volkshochschulkursen bot Arwed Franke, gemeinsam mit Achim Müller, bis 2003 Schulungen an, an deren Ende sich die praktischen und theoretischen Prüfungen anschlossen. Inzwischen ist er gewerblich zugelassener Ausbilder.
Den Spreewald kennt er in- und auswendig, hier macht ihm niemand etwas vor. Er ist seine neue Heimat. Dennoch vergisst er nicht seine niederschlesischen Wurzeln, obwohl er sich kaum erinnern kann. Die Erinnerung wurde all die Jahre von Eltern und Geschwistern wachgehalten, immer wieder drehten sich die Gespräche um die verlorene Heimat. Die Futterkammer, in die er sich 1945 verkrochen hatte, gibt es noch. Bei einem Besuch in Polen hat er sie fotografiert. Das Bild nimmt im Familienalbum der Frankes einen zentralen Platz ein. „Ich bin froh, dass die mich damals gefunden haben“, blickt er auf ein erfülltes Leben im und für den Spreewald zurück.
Peter Becker/peb1, 21.02.13
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