Die Vierjährige kann sich an ihre Flucht vor der Front nur noch in Einzelbilder erinnern. Lücken füllte die ältere Schwester in vielen Gesprächen später auf. So weiß Brigitte Schenk, wie sie damals hieß, dass sie 1945 Drehne bei Sorau überstürzt verlassen mussten. Vater Max betrieb dort eine Bäckerei, war aber in Gefangenschaft. Mutter Erna setzte ihre drei Kinder und auf ein Gespann, die Oma in den Handwagen und floh über Irrwege in Richtung Westen. Bei Mutters Schwester in Vetschau wollte sie eine Zeit bleiben, um dann wieder nach Kriegsende zurückzugehen. Ein Raum für fünf Personen – es sollte ja nicht für immer sein. So der Plan, der nicht aufging.
Brigitte besuchte die Schule I in Vetschau und nahm nach der achten Klasse im Salon Freitag eine Friseurinnenlehre auf. Nach einem Vierteljahr musste sie aufgeben, ihre Haut reagierte allergisch auf Haarlack und –farben. In der Flachsröste wurde sie als Anlernling, wie es damals hieß, eingestellt und half in der Buchhaltung. Ihre Erfahrungen brachte sie 1963 in die Lehre beim Institut für Kraftwerke (IfK) als Industriekaufmann ein. Zwei Jahre zuvor hatte sie Horst Harting, einen begabten Vetschauer Möbeltischler, geheiratet. Sohn Christian kam erst 1976 zur Welt, zu einer Zeit, als der Kinderwunsch eigentlich schon abgeschrieben war. Brigitte Harting nahm das späte Glück dann auch zum Anlass, ihre gut bezahlte Arbeit beim Institut aufzugeben, um sich verstärkt um das Kind kümmern zu können. Nebenbei half sie ihrem Mann in der Tischlerei, machte die Buchhaltung und kümmerte sich um das große Haus und den Hof in der Vetschauer Nordstraße. Das Jahr 1997 wurde zum Schicksalsjahr: Ihr Ehemann verunglückte tödlich – ein schwerer Schlag für die Familie. Christian studierte bereits in Berlin und Brigitte stand von einem Tag zum anderen mit allem allein da. Freundinnen überzeugten sie in dieser schweren Zeit, wieder verstärkt im Chor mitzusingen und sich einzubringen. Brigitte hatte schon als Schülerin ihr Talent unter Beweis gestellt und Erfahrungen gesammelt. Im Schulchor unter der Leitung von Rudi Kahlisch und Paul Bigalski sang sie bereits. Nach einer Pause folgten ab 1991 Auftritte im neu gegründeten Gesangsverein. Das Gemeinschaftserlebnis, das gute Gefühl Menschen mit ihrer Musik zu erreichen, immer wieder neue Herausforderungen, neue Lieder – all das lenkt etwas vom Alltag ab und gibt ihr ein gewisses Gefühl der Zufriedenheit und des Gebrauchtseins. Im Gesangsverein war sie später lange Zeit Schatzmeister, bis man ihr nahe trug, doch den Vorsitz zu übernehmen. Nach Zögern und Zaudern war Brigitte Harting dann so weit und übernahm 2008 den Vorsitz. Zu ihren Aufgaben gehören die Vorbereitung von Veranstaltungen, die Terminkoordinierung mit den 40 Chormitgliedern und die Durchführung der jährlichen Chorlager in verschiedenen Städten und Gegenden Deutschlands. Das Keyboardspiel hat sie inzwischen auch erlernt, Anfänge gab es mit dem Akkordeon schon in der Schulzeit. Im Chor ist sie die Sopranstimme, etwa hundert Texte kann sie auswendig singen. Der Gesangsverein, wie er heute heißt, besteht nun schon seit 30 Jahren. Höhepunkt im Vereinsleben sind die Weihnachtskonzerte in der Vetschauer wendisch-deutschen Doppelkirche. Kaum ein Platz bleibt dann frei, oft müssen noch Stühle herangeholt werden.
Brigitte Harting, die Musik- und Theaterbegeisterte, nutzt jede Gelegenheit zum Besuch von Veranstaltungen. Dabei entstehen immer wieder neue Ideen, die sie auch im Chor umsetzen möchte. Es ist dann oft nicht einfach, alle Mitglieder zu begeistern. In ihrem „Ameisenhaufen“ wie sie den Chor liebevoll nennt, sieht sie sich als Moderatorin, eine die den Ausgleich schaffen will.
Wenn sie mal nicht für den Verein unterwegs ist, bleibt ihr Zeit für das große Grundstück und auch für die eine oder anderen so langsam anfallende Modernisierungsmaßnahme. Handwerkliches Geschick hat sie sich durch ihre Mithilfe in der Tischlerei des Ehemanns angeeignet. Manchmal lässt sie auch mal die Arbeit sein und setzt sich aufs Fahrrad. Unterwegs im Spreewald, an der frischen Luft, kommen ihr schon wieder die nächsten Ideen für den Verein, für den nächsten Chorauftritt und für den nächsten gemeinsamen Ausflug. Die Arbeit fürs Gemeinsame verfolgt sie auf Schritt und Tritt.
Peter Becker/peb1, 13.09.13
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