„Ich war noch keine vier Wochen alt, da nahm mich meine Mutter schon mit auf das Acker“, erinnert sich der Leiper Fritz Pohlenz, Jahrgang 1935. In diesem einen Satz spiegelt sich der Alltag der damaligen Landbevölkerung wider - und der Dialekt der Spreewälder. Die ehemals wendisch sprechende Bevölkerung nahm sich des Deutschen nur langsam an, Artikel werden manchmal heute noch beliebig verwandt. Unter „Mitnahme“ ist in Leipe gemeint, dass das Baby im Kahn transportiert wurde, denn anders wären die Flächen am Rog (wend.; „Ecke, Winkel“) nicht zu erreichen gewesen.
Fritz sollte das einzige Kind von Fritz und Bertha Pohlenz bleiben. „Ich musste schon bald mithelfen, so gut ich konnte. Da wären mehrere Hände, und wenn es nur Kinderhände gewesen wären, gern willkommen gewesen.“ Der kleine Fritz lernte bald das Kahnfahren in den Gräben, die die Äcker umgaben, beobachtet von seinen Eltern. In den Gräben stellte er Reusen auf, die er regelmäßig zu kontrollieren hatte. Vormittags war Schule, acht Jahrgänge in einem Raum. Zum Ende des Krieges waren noch Umsiedlerkinder und Kinder ausgebombter Berliner dazu gekommen, sodass die Lernbedingungen sehr erschwert wurden. Das Ende des Krieges selbst war in Leipe ziemlich unspektakulär. „Ein Russe kam mit dem Motorrad über den schmalen Weg aus Richtung Lübbenau. An der letzten Brücke musste er es abstellen, da sie zerstört war. Zu Fuß erreichte er dann den Ort und verkündete mit „Woina kaputt“ das Kriegsende“, erinnert sich Fritz Pohlenz an die Erzählungen seiner Eltern und die der anderen Leiper. Vorher verbrachten sie eine Zeit in ihrer Schutzhütte auf dem Acker, weit weg vom Ort. Sie waren dennoch nicht allein, denn auch viele Lübbenauer hatten sich in den inneren Spreewald zurückgezogen und lebten auf den Kähnen.
Fritz Pohlenz besuchte die Landwirtschaftschule in Kittlitz und half weiterhin im elterlichen Betrieb mit, den er auch später übernahm. Die ehemalige Remise wurde zum Stall umgebaut. Das Baumaterial wurde mit dem Kahn herangeschafft, die Steine aus Lübbenau, der Kies vom Radduscher Schwarzen Berg. „Mit einem Ochsen im Kahn fuhren wir nach Raddusch. Der Ochse wurde dort vor den Ackerwagen mit Kies gespannt und zog diesen zum Kahn, der am Berg im Seesauer Fließ lag.“ Fritz Pohlenz hat diese Zeit, in der der Kahn das Haupttransportmittel war, gut in Erinnerung. Am schwierigsten wurde es, wenn im Winter das Eis noch nicht hielt und ein Kahnfahren nicht mehr möglich war. „Wir haben dann manchmal Kufen unter den Kahn geschraubt und ihn an Stricken über das Eis gezogen. An eisfreien Stellen ging es dann wieder mit dem Rudel weiter.“ Noch schwieriger wurde es, wenn die Frauen zur Entbindung nach Lübbenau gebracht werden mussten. „Ich habe meine Anneliese zweimal mit dem Kahn in höchster Eile und mit Motorunterstützung nach Lübbenau gebracht, einmal in der Nacht, nur notdürftig mit einer Taschenlampe als Lichtquelle“, erinnert er sich an das Vaterwerden. Bei Moshake, im „Gründen Strand der Spree“, haben sich die werdenden Leiper Väter dann von der Anstrengung erholt, während ihre Frauen im Ambulatorium kreißten. Er weiß auch von Krankentransporten im Brühtrog auf dem Puffschlitten, wenn weder Kahn noch Stoßschlitten eingesetzt werden konnten. In den Trog kam eine dicke Schicht Stroh, darauf der bettlägerige Kranke. Starke Männer zogen dann den Schlitten mit dem Trog darauf. Ihren Dorfschullehrer Staritz haben sie einmal so in das Ambulatorium gebracht. Der Puffschlitten ist ein ganz flacher Schlitten, mit dem die Spreewälder das Heu von den Schobern holten.
Ganz gegenwärtig ist noch die Zeit der Mangelwirtschaft. „Wir konnten gar nicht so viel Gemüse anbauen, wie nötig gewesen wäre. Gezahlt wurde von den Aufkäufern sehr gut, mehr, als es beim Konsum oder in der HO dann kostete. Wir bekamen für einen Kopf Salat, wenn er frühzeitig geerntet werden konnte, eine Mark. Im Laden wurde er dann für 50 Pfennig verkauft!“ Er erinnert sich an Kahnfahrgäste, die sich einmal mit Zwiebeln direkt vom Feld eindeckten. „Eine Frau zog ihren Nylonmantel aus, schüttete Zwiebeln hinein, verknotete ihn und trug den Mantel nun als Zwiebelsack über der Schulter zurück in den Kahn!“
Wegen der bis 1969 fehlenden Straßenanbindung musste auch die Milch der Leiper per Kahn oder Schlitten zur Molkerei nach Lübbenau gebracht werden. Bis morgens sechs Uhr mussten die Milchkannen am Fließ stehen. Der Milchkahn brachte auf dem Rückweg die Magermilch und die Waren für den Dorfkonsum mit. Bei großer Kälte, wenn nichts mehr ging, wurde die Milch bereits im Keller des Spreewaldhotels zentrifugiert und die Sahne für den nächstmöglichen Transport gesammelt. „Wir hatten ganz schön zu tun, damit die Sahne nicht gefror. Sobald es wieder möglich war, kam der Stoßschlitten zum Einsatz. Im Dorf war geregelt wer dann ‚Sahne schaffen‘ musste“, erinnert sich Fritz Pohlenz.
Drei Mädchen wuchsen bei Fritz und Anneliese Pohlenz auf, was ihnen den Ruf eines „Drei-Mädel-Hauses“ einbrachte. Inzwischen dominiert die Landwirtschaft schon längst nicht mehr den Alltag. Jetzt ist Kleintierhaltung angesagt. „Falls der Fuchs nicht gerade wieder mal den Hühnerstall zur Mördergrube gemacht hat. Letztens hat er 14 Hühner getötet und mitgenommen.“ Aber besonders aufgeregt ist Fritz Pohlenz nicht, wenn er darüber berichtet. Sein Leben ist von Anfang an mit dem Spreewald und seinen Besonderheiten verbunden gewesen, einschließlich der großen Nähe zur Natur und zum Tier.
Peter Becker/peb1, 01.11.12
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