Sie kennt so ziemlich alle Brustumfänge der Spreewälder Kahnfährmänner. „Es müssten so an die zweihundert Westen sein, die ich gefertigt habe“, blickt die Groß Lübbenauer Schneiderin auf ihre Arbeit zurück. Und spätestens nach vier oder fünf Jahren ist eine neue Weste fällig, denn das Ausbleichen in der Sonne bekommt den dunklen Stoffen nicht. Auch Brustumfänge verändern sich …
Die 1952 in Burg-Kauper geborene Gerda zog frühzeitig nach Zahsow und besuchte in Kolkwitz die Schule. Damals war es noch möglich diese nach der achten Klasse zu verlassen und im Rahmen einer dreijährigen Berufsausbildung den Zehnklassenabschluss nachzuholen. In der PGH Spreewald lernte sie Schneiderin. Meistens wurde Arbeitskleidung gefertigt, manchmal, wenn Zeit war, wie zum Ausgleich Trachtenpuppen. „Silastikstoff, wie er für Schürzen gebraucht wurde, hatten wir reichlich. Von den Abfällen nähte ich mir heimlich, nach Feierabend ein Kleid. Und das war –kaum zu glauben- gelungen. Es war schick und modern“, erinnert sie sich an eine Lehrzeit voller Hingabe. Das fiel auch ihren Chefs auf. Gleich nach dem dritten Lehrjahr sollte sie zur Fachschule gehen. Aber daraus wurde nichts. Sie war schwanger. Ein zweiter Anlauf scheiterte ein Jahr später aus dem gleichen Grund. Dann auch noch Alleinstehend, musste sie sich auf die Suche nach einer besseren Arbeit – und nach einer Wohnung begeben. Beides fand sie bei der Arbeiterwohngemeinschaft Cottbus. Später ging sie dann doch wieder in ihren erlernten Beruf zurück. Nun, als Lederschneiderin, fiel sie sogleich wieder auf. Eine dreihundertprozentige Normerfüllung war bei ihr nicht selten. Das brachte ihr eine Tätigkeit an der Berufsschule ein, die war aber nicht von Dauer.
Im Groß Lübbenauer Frank Michael Lehmann fand sie dann doch noch privates Glück. Kennengelernt bei einer privaten Feier, fasste sie sich ein Herz und lud ihn spontan zu einem gemeinsamen Urlaub ein: Emanzipation a la DDR. Im Heimatdorf des Zukünftigen wurde ein Grundstück mit einem alten Haus frei. Sie kauften es und bauten es aus. Nun genügend Räume, wagte sie 1987 den Schritt in die Selbstständigkeit. Gerda Lehmann: „Es gab viel zu tun. Die Frauen kamen mit Bildern aus Westkatalogen und wollten unbedingt genau nach diesem Foto Kleidung geschneidert haben. Ein halbes Jahr Wartezeit war damals normal.“ Mit der Wende änderte sich das grundlegend. Es folgte ein Jahr der Arbeitslosigkeit, danach eine Buchhaltertätigkeit in Cottbus. Das Schneiderfieber ließ sie aber nicht los, die Gewerberäume waren vorhanden, es fehlt nur an einem marktfähigen Produkt. Irgendwoher bekam Gerda Lehmann mit, dass Morgenmäntel, gefertigt in Handarbeit, gesucht werden. Dem war auch so: 20 Minuten für einen Mantel, zwei Mitarbeiterinnen gingen ihr zu Hand. Von früh am Morgen bis spät in die Nacht wurde geschneidert, verpackt und zum Versand nach ganz Deutschland vorbereitet. Was wie ein Erfolgskonzept aussah, wandelte sich bald in ein Desaster: „Ich bin nur dem Geld hinterhergerannt, ich musste ja meine Schneiderinnen bezahlen“, erinnert sich die Unternehmerin. Diese ernüchternde Erfahrung mit der Marktwirtschaft kam sie teuer zu stehen, über 10 000 EUR hat sie in dieser Zeit verloren. Es folgten Kleinaufträge, hier und da Reparaturen und andere Gefälligkeiten. Aus ihrer Lübbenauer Zeit, sie hatte dort eine Zeit lang ein kleines Ladengeschäft, stammen die Kontakte zu den Fährleuten. Es wurde in den Vereinen allgemein üblich, einheitliche Westen zu tragen. So sind die Fährleute schon von Weitem an ihren unterschiedlichen Farben zu unterscheiden. „Nur die Roten, die habe ich noch nicht. Die lassen woanders schneidern. Aber ich habe genug zu tun, es bleibt auch noch Zeit für andere Aufträge, die sich immer mal ergeben“, so die Schneiderin. Bei den Fährleuten reicht manchmal schon ein Anruf. In Gerda Lehmanns Kundendatei sind die Maße verzeichnet, und wenn es keine Veränderungen gibt, passt dann auch die neue Weste. „Einmal Maß nehmen, zuschneiden, nähen – dann muss das passen. So viel Schneiderehre muss ein!“ Ihre Nähmaschine rattert etwas seltener, aber immer noch ziemlich regelmäßig. Neben den Stammkunden, den Fährmännern und -frauen, sind ihr noch die vielen Gelegenheitskunden aus der Nachbarschaft geblieben, die ihre Arbeit schätzen. Besonders ihre Fähigkeiten als Lederschneiderin sind gefragt.
Peter Becker/peb1, 17.03.13
|