Die überm Wasser wohnen … oder warum im Spreewald manchmal die Kohlen gewaschen werden
Die Lehd‘schen unterscheiden gern nach der Wohnlage: Wer aus der Lübbenauer Neustadt kommt, kommt „von’s hinter Schranke“. Wer Lehder ist, aber kein Straßenanschluss hat, wohnt „überm Wasser“. Das waren früher sehr viele, heute sind es nur noch ganz wenige, Scholzens gehören dazu. Wer auf dem Landweg zu ihnen will, muss sich das sehr genau beschreiben lassen. Es geht auf schmalen Pfaden entlang des Suezkanales1 durch Dickicht bis zu einem Fließ. An einem Baum befindet sich ein Klingelknopf, den der Besucher keinesfalls übersehen sollte. Wie sollten Günther und Christine Scholz sonst wissen, dass Besuch da ist? Wenn es überm Wasser rumpelt und die Kette rasselt, kann angenommen werden, dass jemand den Kahn abgelegt hat und zum Besucher übersetzt. Meist kommt Günther Scholz, in seinem Kahn ein Stuhl, auf den sich der Gast setzen kann. Oder er steht, denn die Überfahrt dauert nur eine Minute.
Es ist das Elternhaus der Christine Richter, die hier 1949 geboren wurde. Hier wuchs sie auf und musste wie alle Kinder in der Landwirtschaft der Eltern mithelfen. „Im Sommer wartete Mutter schon mit dem Kahn am Ufer, um mit mir nach der Schule auf die Wiese zu fahren“, erinnert sie sich an Kindheit und Jugend. Zur Jugend gehören auch schöne Erinnerungen, wie die Fahrten mit dem Kahn und den anderen Jugendlichen zum Tanz nach Wotschofska. Dort lernte sie den schmächtigen Günther kennen, der gerade den Facharbeiterabschluss feierte. Er gefiel ihr, sein rollendes „R“ war lustig, aber nicht sonderlich schlimm. Günthers erster Auftritt bei den zukünftigen Schwiegereltern fiel auf beiden Seiten eher ernüchternd aus: „Was willst‘e man denn mit das Jüngchen hier? Der kriegt doch keine Heugabel hoch!“, schätzte Christines Mutter den Schwiegersohn offen und ehrlich ein.
Günther Scholz stammt aus Dittersbach, der Hochburg des rollenden „R’s“. Er wurde 1949 geboren und wollte Elektromonteur werden. Sein in Lübbenau lebender zehn Jahre älterer Bruder verschaffte ihm in den sich entwickelnden Tagebauen eine Lehrstelle. Wegen guter Leistungen schloss er frühzeitig ab und begann sogleich ein Ingenieurstudium in Zittau. Seine Liebe von der Wotschofska zog mit ihm in die gemeinsame Wohnung nach Hagenwerder. Christine war inzwischen Blumenbinderin geworden und verkaufte in Görlitz Blumen. Hier kam noch Tochter Anja zur Welt, bevor die junge Familie nach Günthers Studium in einem Lübbenauer Hochhaus, im 10. Stock, eine moderne Neubauwohnung bekam. Sie waren jetzt wieder dem Spreewald ganz nah und oft ging es wieder zu den Eltern nach Lehde. In dieser Zeit kam 1972 Sohn Ralf zur Welt, der schon frühzeitig in Lehde mithalf. Die Betagten dort brauchten dringend Unterstützung. Günther erinnert sich noch an seine ersten Fahrten mit dem Kahn. „Einmal hatte ich den Kahn voll Kies. Es sollte wieder mal schnell gehen und ich habe etwas zu schnell die Schleuse bedient. Das hereinschwallende Wasser schoss über die Bordwand und sofort sank der Kahn auf den Grund der Schleuse“, erinnert er sich an eine der ersten Fahrten im Auftrag des Schwiegervaters. Ein anderes Mal waren zwei Tonnen Briketts vom Verladeplatz in Lehde zu holen. „Ich hatte schon gelernt, dass der Kahn beim Beladen locker und mit Spiel angekettet werden muss, damit der zu erwartende Tiefgang ausgeglichen werden kann. Diesmal hatte ich ihn erst gar nicht angebunden und die Kette in der Hand behalten - den Kohlerutsch vom Lkw in den Kahn konnte ich dann doch nicht ausgleichen und die Hälfte der Briketts landete im Wasser“, erinnert er sich an ein anderes Debakel. Er zog die Hose aus und fischte im Wasser stehend Brikett für Brikett vom Grund. Den lästernden Kahntouristen gab er zur Antwort, „dass wir hier im Spreewald die Kohle immer vorher waschen. Ist das bei Ihnen nicht so?“
Nun wohnen beide in dem Haus der Schwiegereltern, die inzwischen verstorben sind. Eine Stadtwohnung haben sie aber trotzdem noch behalten. „Wenn Günther mal für längere Zeit weg ist, fürchte ich mich allein in dem Haus. Dann ziehe ich für die Zeit in die Neustadt und schaue nur tagsüber nach dem Rechten“, erzählt Christine Scholz. Ansonsten haben sie sich das Leben in der Abgeschiedenheit gut organisiert. Steht der Wocheneinkauf an, fährt einer mit dem Kahn zur Verladestelle („schade, dass es an den Supermärkten keine Kahnanlegestelle gibt!“), der andere fährt mit dem Fahrrad zu den zentral gelegenen Garagen, holt das Auto, dann den Partner von der Verladestelle und gemeinsam geht es zum Einkauf. Der Rückweg ist dann mit ähnlichem logistischen Aufwand verbunden. „Was andere als idyllisch empfinden, kann auch eine Last sein! Ich denke da nur an Einkauf oder gar Krankheit im Winter, wenn das Eis nicht hält, aber ein Kahn auch nicht fahren kann“, gibt Günther Scholz zu bedenken. Notfalls kann auf dem kleinen Acker nebenan ein Rettungshubschrauber landen, aber beide hoffen, dass sie diesen Dienst niemals in Anspruch nehmen müssen. „Als Mutter mal erkrankte, haben wir erst den Arzt von der Verladestelle mit dem Kahn abgeholt und ihn dann mit der kranken Mutter, die auf einer Trage lag, zurück gebracht, wo ein Krankenwagen wartete“, erinnert sich Christine. Und Günther ist die allerletzte Fahrt seines Schwiegervaters in Erinnerung: „Wir hatten den Bestatter abgeholt, mussten dann aber wegen Eisbildung den Rückweg mit dem Vater im Sarg über das halbe Dorf machen- bloß gut, dass kaum jemand unterwegs war. Touristen hätten womöglich noch Fotos oder gar pietätlose Bemerkungen gemacht“. Das Leben „überm Wasser“ ist mit vielen Einschränkungen verbunden, dennoch möchten sie es nicht vermissen. Anschluss an die Trinkwasserleitung haben sie schon länger, inzwischen haben sie eine biologische Kläranlage, die Erdgasleitung liegt an und muss nur noch angeschlossen werden. Wenn die Enkelkinder kommen (mit dem Kahn abgeholt werden), sind alle Mühen vergessen. Im hauseigenen Gässchen mit seinem flachen Wasser dümpeln ein Floß und eine Zinkbadewanne - die „Fahrzeuge“ der Enkel. Wenn sie wieder mal allein sind, genießen sie die Amüsier-Nachmittage. Sie hören dann bei einer Tasse Kaffee im Hof den Erläuterungen der Fährleute zu, die so zahlreich wie falsch sind. Diese schildern ihr Einsiedlerleben so, wie es die Touristen wohl hören mögen. Das klingt dann, als würden sie nicht überm Wasser, sondern hinterm Mond wohnen.
Peter Becker/peb1, 01.08.12
1 Der Suezkanal ist ein in den fünfziger Jahren ausgebaggerter Verbindungskanal. Seinen Namen hat er von Christines Vater bekommen, der den neuen Wasserweg kurzerhand wegen der damaligen Suezkanal-Krise so nannte.
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