Er kann sich noch gut an die Kindheit im Schloss Seese bei Lübbenau erinnern, besonders auch an die Jagderlebnisse, die er mit seinem Vater Wilhelm Friedrich Graf zu Lynar hatte. „Er hat mich oft in der Kutsche oder manchmal auch auf dem Pferd zur Jagd mitgenommen. Einmal hat mein Vater mich abgesetzt und ist allein weitergepirscht. In der anbrechenden Dunkelheit habe ich Angst bekommen, zumal auch noch ein Rehbock schreckte“, erinnert sich der 1932 geborene Guido Graf zu Lynar an ein weniger schönes Erlebnis. Mit der Zwille, einer Steinschleuder, erlangte er im Wettkampf mit den Dorfjungen Perfektion. „Die Spatzen, die waren vor mir nicht sicher“, bekennt er sich heute zu seiner frühen Jagdleidenschaft. Vater Wilhelm Friedrich Rochus Graf zu Lynar hatte Anfang der Vierziger Jahre kaum noch Zeit zum Jagen. Der Major der Wehrmacht war Stabsoffizier in Berlin und in die Attentatspläne gegen Hitler eingeweiht. Sein Vorgesetzter und Mitinitiator des Putschversuches, Generalfeldmarschall von Witzleben, wohnte sogar einige Zeit im Seeser Schloss. Der Zwölfjährige Guido erinnert sich an den Tag, an dem seine Mutter auf einer Postkarte die Todesnachricht erhielt: Ihr Mann, Vater von sechs Kindern, sei vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 29.September 1944 hingerichtet worden. Zu allem persönlichen Unglück kam dann noch die Enteignung des gräflichen Besitzes. Die Mutter durfte mit den Kindern allerdings noch auf dem Schloss wohnen bleiben. Zwei ihrer Söhne befanden sich im Kriegseinsatz, sie wurden degradiert und zu Himmelfahrtskommandos eingesetzt. Friedrich Graf zu Lynar sollte noch in den letzten Kriegswochen ein Einmann-U-Boot steuern - ein sicheres Todesurteil. Eine schwere Erkrankung ließ den Einsatz glücklicherweise nicht zu. Rochus Graf zu Lynar war in Italien im Einsatz. Von seinem Schicksal hat die Familie nie etwas erfahren, er gilt als vermisst.
Guido Graf zu Lynar hatte in der Seeser Zeit mit seinem jüngeren Bruder Christian einen Hauslehrer. Nach Kriegsende besuchten beide bis 1949 das Carl-Blechen-Gymnasium in Cottbus. Inzwischen hatte sich das politische Umfeld für die bereits von den Nazis bestrafte Familie noch einmal verschlechtert. Im aufstrebenden Arbeiter- und Bauernstaat war keine Zukunft für die adlige Familie erkennbar. Beide Söhne wurden zur weiteren Ausbildung in die Westzone geschickt. Graf Guido kam nach Oldenburg in ein evangelisches Schülerheim. Er besuchte weiter das Gymnasium, musste aber das „Ostjahr“ wiederholen. „Vielleicht waren meine Leistungen in Mathematik zu schlecht, schließlich kam ich von der Fünf nicht runter“, bekennt er heute freimütig. Er verzichtet folgerichtig auf das Abitur und wurde – Kaufmann. „Das war schon eher was, nicht so etwas Abstraktes wie Algebra und Cosinus“, beschreibt er seine Berufswahl. Die Familie mit der inzwischen ebenfalls übergesiedelten Mutter, bekam Unterstützung vom „Hilfswerk 20. Juli 1944“, sodass ein einfaches, aber gesichertes Leben möglich wurde. Nach der Lehre erfolgte eine Anstellung und eine weitere Ausbildung bei der Hoechst-AG. Schon 1957 wurde Graf Guido in den Außendienst, nach Brasilien, versetzt. Diese Zeit ist ihm in nicht sonderlich guter Erinnerung geblieben, denn die Bezahlung war schlecht, die Inflation in dem südamerikanischen Land fraß jegliche noch so kleine Spareinlage auf. Nach drei Jahren wollte Graf Guido wieder zurück, aber der Konzern schickte ihn nach Lissabon, um die dortige Filialleitung zu übernehmen. Lediglich seinen in Norwegen als Pfarrer tätigen Bruder Friedrich konnte er vor seinem nächsten Auslandseinsatz gemeinsam mit der Mutter besuchen. Er kündigte 1965 der Hoechst-AG und nahm eine Tätigkeit in einer von einem Österreicher geführten Papierfabrik auf. Hier lernte er auch seine zukünftige Frau kennen. Sie lebte bei ihrem Onkel, dem damaligen deutschen Militärattachée in Portugal. Mit der Hochzeit wurde sie eine Beatrix Gräfin zu Lynar und folgten ihrem Mann zu seinem nächsten Arbeitsort nach Mosambik. Sein ehemaliger Arbeitgeber Hoechst hatte ihn gebeten, doch wieder für die Firma tätig zu werden, nun aber in der damaligen portugiesischen Kolonie. Auf den Baumwollfeldern sollte der Einsatz von Pflanzenschutz- und Düngemitteln erprobt werden – ein Projekt zur Unterstützung der heimischen Wirtschaft. Noch bevor das Land 1975 seine Unabhängigkeit erlangte, ging Graf Guido 1973 wieder nach Portugal zurück und übernahm bis zu seiner Pensionierung 1990 eine Tätigkeit in der Geschäftsführung der dortigen Hoechst-AG . In dieser Zeit zeichneten sich in seiner alten Lausitzer Heimat große Umwälzungen ab. Bruder Christian Graf zu Lynar war inzwischen schon vor Ort tätig und bemühte sich um Rückübertragung des Familienbesitzes. Da es schon von den Nazis enteignet wurde, erwartete die Familie keine allzu großen Schwierigkeiten – das Gegenteil war aber der Fall. Die Treuhand hatte das Schloss Lübbenau schon einem Käufer zugesprochen, allerdings noch nicht rechtskräftig. Für vier Millionen DM-Mark hätten auch die Lynars ihr Eigentum zurückkaufen können, falls nicht ihrem Antrag auf Rückübertragung entsprochen worden wäre. Nach zwei Jahren, im Frühjahr 1992, war es dann endlich so weit. Ihr Restitutionsantrag wurde endlich positiv beschieden. Die Lynars durften ihr Jahrhunderte altes Eigentum auch wieder ihr Eigentum nennen! Im Schloss erfolgten Umbauten zu einem Hotel, die Familie war vollständig in die zahlreichen Aufgaben und Arbeiten eingebunden. Für das Hotel wurde ein Hoteldirektor gesucht und in Sohn Rochus gefunden. Der war damals, wie schon sein Vater früher, im Brasilieneinsatz tätig, als er den schicksalshaften Telefonanruf erhielt: „Junge, ich habe einen Job für dich!“ Erzogen, für die Familie da zu sein, wenn man gebraucht wird, folgte der Sohn dem väterlichen Ruf.
Guido Graf zu Lynar kann sich heute dennoch nicht entspannt zurücklehnen. Seit über 20 Jahren kümmert es sich um die Klärung der weiteren vielen offenen Eigentumsfragen. Vieles aus dem Besitz der Familie ist, wie das Seeser Schloss selbst, vom Kohlebergbau unwiederbringlich zerstört worden. Zahlreiche Unterlagen und Eintragungen in den Katastern sind unvollständig oder falsch. „Da gibt es noch lange viel zu tun“, schätzt der agile Graf, nun selbst schon auf die Achtzig zugehend, ein.
Die von Kindheit an erlebte Leidenschaft für die Jagd ist ihm geblieben. Dennoch hat er vor zwei Jahren die Jagd beendet, weil „Wildtiere edle Tiere sind und nur von einem fitten Jäger erlegt werden sollen – und so fit sehe ich mich nicht, ich möchte kein Tier krankschießen …!“Sein letztes großes Jagderlebnis war ein 16-Ender Hirsch, ziemlich genau dort erlegt, wo alles begann – in Seese.
Peter Becker/peb1, 07.12.2011 |