Ingrid Wassermann

Landwirtin, Trachtenexpertin aus Raddusch

„Also eine Trachtenexpertin bin ich nicht, eher nur eine Liebhaberin der wendischen Trachten“, bekennt Ingrid Wassermann auf die Frage, woher sie ihr umfangreiches Wissen hat. Um dann aber sogleich ins Detail zu gehen: „Also die Radduscher Tracht unterscheidet sich deutlich von den anderen. Jedes Kirchspiel hat seine Besonderheiten und wer genau hinsieht, kann die Tracht sofort zuordnen. Die Radduscher haben am Rocksaum eine feine Spitze, die Burger Besenborte. Das Band ist aufwendig bestückt, die Radduscherinnen tragen eine mit Perlen bestückten Gürtel und keine Schleifen und die Haube ist besonders groß und schön….“ Die „Liebhaberin“ widerlegt durch ihre Detailkenntnis ihre eigene Aussage - sie ist eine der noch ganz wenigen, die mit der Tracht aufgewachsen ist. „Wenn auch nicht direkt von der eigenen Mutter vorgelebt -die ging schon deutsch-, so doch von der Großmutter Marie Salani.“ Die 1935 geborene Ingrid wuchs so ganz selbstverständlich in beiden Kulturen auf. Die Großeltern sprachen noch Wendisch, die Eltern pflegten schon das modernere Leben und gingen mit der Zeit, wie es damals hieß. Ingrid war das einzige Kind und „bloß ein Mädchen“, wie der Vater öfter mal verlauten ließ und wie es sich seine Tochter bis heute gemerkt hat. Sie war voller Neugier auf das andere Leben, das so mystisch, fast märchenhaft auf sie wirkte. Ihrer Großmutter verdankt sie ihr Wissen um die vielen Details, auch über die Sitten und Bräuche der Wenden. Mitten in ihre Schulzeit fiel das Ende des Weltkrieges. Vor den anrückenden russischen Truppen floh die Familie ins nahe Koßwig, um dort sogleich von der Front überrollt zu werden. Mit den russischen Soldaten gab es keine größeren Probleme, nur die Fahrräder waren nicht vor denen sicher. Ingrids Vater hatte aber eine Lösung gefunden: Er lockerte die Lenker - mit solchen Rädern konnte keiner fahren. Wut entbrannt ließen es die Diebe nach wenigen Metern im Straßenstaub liegen. Bald setzte wieder normales Leben ein, die Landwirtschaft bestimmte wieder wie eh und je den Alltag. Auch die heranwachsende Ingrid („Ich war Vaters Großknecht!“) musste mit anpacken. Abwechslung in den Alltag brachten lediglich die wenigen Tanzvergnügen auf den Dörfern. Danach, am sehr frühen Morgen, ging es in den Stall zum Melken, denn die Milch musste pünktlich am Sammelpunkt sein. „Weil ich das mal verpasst habe, musste ich die schweren Milchkannen mit dem Fahrrad nach Burg zur Molkerei bringen“, erinnert sie sich an Begebenheiten ihrer Jugendzeit. Beim Stolletanz lernte sie 1954 Willi Wassermann kennen, beide heirateten 1955. Fünf Kinder wurden geboren und größtenteils von der Mutter allein aufgezogen. Der Ehemann war in Berlin auf Montage und nur am Wochenende daheim, davon die meiste Zeit auf Äckern und Wiesen. Die Landwirtschaft wurde noch bis zur Eingliederung in die LPG nebenher betrieben. In den frühen fünfziger Jahren sang Ingrid im Radduscher Volkschor. Die Frauen trugen die einheimische Tracht und wollten dabei möglichst original sein. Als Problem erwies sich die Tatsache, das es nicht genügend Gürtel gab. Aus der Not heraus, holten sie sich im nahen Westberlin schicke schwarze Gürtel mit Gummiband und modernen Verschluss. Das, was ihnen beim Gesangswettbewerb der Chöre in Cottbus Punkte bringen sollte, ging nach hinten los: Die Radduscher wurden disqualifiziert, weil sie sich der Hilfe des Klassenfeindes bedient hatten. Vielleicht war es dieses Schlüsselerlebnis, vielleicht war es auch die Zeit - das Tragen der Tracht nahm in Raddusch und den anderen Spreewalddörfern immer mehr ab. Viele trennten sich davon oder versuchten daraus eine zweckmäßige Kleidung für den Hofalltag zu fertigen. Ingrid Wassermann bemerkte natürlich auch diesen allgemeinen Trend, war aber zu sehr in Kindererziehung und Landwirtschaft eingebunden, als dass sie sich hätte dagegen stemmen können: „Meine Großmutter hätte sich im Grabe umgedreht! Nie hätte sie sich davon getrennt!“, schätzt sie heute ein. Sie bewahrte deshalb ihre Trachten und die der Familie auf, rettete auch das eine oder andere Stück der Nachbarn vor der Vernichtung. Nun selbst mehrfache Groß- und Urgroßmutter, findet sie wieder Zeit, sich des Vermächtnisses ihrer eigenen Großmutter anzunehmen. Sie sieht sich gern in dieser Rolle und füllt sie auch aus. Nach der politischen Wende besannen sich die Menschen wieder mehr auf ihre Herkunft, das Vereinsleben nahm wieder zu. Ingrid Wassermann kleidete aus ihrem Fundus gleich mehrere Gurkenköniginnen ein, die ein Lehder Hotelier jährlich wählen lässt. Sie stickt, näht und bessert aus, sie sammelt immer noch Trachtenteile und gibt den Radduscher Frauen Ratschläge. Beim Fastnachtsumzug oder anderen Veranstaltungen des Heimat- und Trachtenvereins herrscht in ihren Räumlichkeiten reges Treiben: Gleich mehrere Frauen ziehen sich dann bei ihr an. „Ich könnte zehn Frauen einkleiden, so viele Trachten habe ich“, bekundet sie stolz. Nach dem frühen Tod ihres Willi, hat sie so noch eine Aufgabe im Leben gefunden. Sie merkt ihr Gebrauchtsein und sieht sich als Trachtenbewahrerin - wenn sie auch ihren Expertenstatus weiterhin bescheiden leugnet.

Peter Becker, 26.04.12

† Ingrid Wassermann verstarb 26. Januar 2016

s.a. www.radduscher-spreewaldtracht.de

 

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