Von einem kleinen Kaufmannsladen träumten früher viele Mädchen. Ilse Hartrampf brauchte sich dies nicht zu erträumen – sie wuchs inmitten des elterlichen Ladens am Lübbenauer Markt 12 auf. Ein Kindheitserlebnis von damals und eines der wenigen außerhalb des Ladens hat sie heute noch vor Augen: Es sind die wehenden Mäntel und die Gesten der Schriftsteller Ehm Welk und Bruno H. Bürgel , die sie einmal bei deren Spaziergang durch den Lübbenauer Schlosspark beobachtete. Beide schienen in eine heftige Diskussion vertieft.
Der 1930 Geborenen schien durch das elterliche Umfeld der Weg vorgezeichnet. Allerdings bauten Krieg und Kriegswirren eine Reihe Hindernisse auf dem Weg zur Verkäuferin auf. Verlief die Volksschulzeit noch einigermaßen normal, war das später am Lübbener Paul-Gerhardt-Gymnasium nicht mehr so. Das Gebäude wurde 1945 als Lazarett benötigt, der Schulbetrieb wurde in die alte Lübbener Schule ausgelagert. An eine Ausbildung im herkömmlichen Sinne war vorerst nicht zu denken, ihre eigentliche Lehre war die Mitarbeit im elterlichen Lebensmittelladen. Dennoch konnte sie 1948 eine Verkäuferinnenlehre abschließen. Beinahe wäre ihr Weg möglicherweise doch noch ganz anders verlaufen: Die sowjetische Besatzungsmacht forderte jeden Betrieb auf, junge Leute zum Abbau des für Reparationszwecke bestimmten zweiten Bahngleises abzustellen. Aus dem Lebensmittelgeschäft opferte sich Mit-Lehrling Gerhard Hause, damit nicht die junge schmächtige Ilse diesen schwere Arbeit verrichten musste. Wer weiß, welcher Schicksalweg ihr dadurch erspart geblieben ist! Ihrem männlichen Kollegen ist sie noch heute dankbar. So blieb sie im Geschäft und musste sich mit den immer knapper werdenden Waren und den parallel dazu immer unzufriedeneren Kunden rumärgern.
Umzug in die Gaststätte
Nun schon fast zwanzig Jahre alt und nach einer schön verlebten Zeit mit ihren vielen Freundinnen, lernte sie beim Bummeln auf der damaligen Hauptstraße, der heutigen Ehm-Welk-Straße, Rudolf Müller kennen und in der Folge lieben. Sie ließen sich Zeit und heirateten erst 1954 nach ein paar Jahren Verlobung. Die Töchter Dorit und Christine kamen 1955 und 1959 zur Welt. Mit der Einheiratung in eine Gastwirtsfamilie war für Ilse Müller die Lebensaufgabe eigentlich klar: Mitarbeit im Betrieb, Trennung vom elterlichen Kaufmannsladen. „Mit Respekt denke ich immer noch an meine Schwiegermutter, die die Küche perfekt beherrschte. Ich wollte ihr in nichts nachstehen und schulte zur Köchin um“, erinnert sie sich an den schweren Anfang. Das mit der Umschulung war damals anders zu verstehen als heute. Ilse Müller meldete sich im Cottbuser „Weißen Ross“ als Volontärin an, heute mit einem Praktikum vergleichbar und ebenso unbezahlt. Dort hatte schon ihr Mann seine Ausbildung erhalten. In einem halben Jahr erlernte sie das Köchinnenhandwerk und brauchte sich vor ihrer Schwiegermutter fortan nicht mehr zu verstecken.
Ein Leben im Dienste des Gastes
Die Gaststätte -1882 gegründet- florierte nicht nur im Sommer durch die vielen Tagestouristen. Auch die Lübbenauer und Dörfler kamen das ganze Jahr über regelmäßig. „Wenn wir um zehn Uhr vormittags öffneten, strömten schon die Kraftwerksschichtarbeiter ein. Bald war die Gaststätte völlig zugequalmt – nur gut, dass ich die meiste Zeit in der Küche war!“ Abends war die Kegelbahn regelmäßig belegt: Dienstag vom Verein „Fall um“, Mittwoch kamen die Fährleute, Donnerstag die Alten Herren, Freitag die Post und Sonnabend die Eisenbahner. Viele Lübbenauer Firmen, Einrichtungen und besonders die Gurkeneinlegerbetriebe feierten ihre Feste und Brigadefeiern bei Müller-Jäger. „Manchmal ging es bis früh um drei Uhr. Wenn wir die letzten Gäste verabschiedeten, begrüßten wir den gegenüberliegenden Bäcker, der sich an sein Tagwerk machte“, erinnert sich Ilse Müller. Auch die weniger freudigen Ereignisse fanden in der Gaststätte statt. Die Leiper und Lehder richteten ihre Totenfeier nach der Beerdigung in der Gaststätte aus. Sie brachten belegte Brote und Kuchen oft selbst mit, von der Gaststätte wurde nur Kaffee gestellt. Ihre Kähne lagen im benachbarten Strubels Gässchen, bevor sie sich damit wieder auf den Heimweg machten. Es wird davon berichtet, dass die Kapelle nach dem Auszug der Trauergesellschaft auf Fröhlichkeit umschaltete und noch so manchen lustigen Tanzabend in und vor der Gaststätte gestaltete. Die Lehder und Leiper kehrten schon immer gern bei Müller-Jäger ein. Entweder kamen sie mit dem Kahn oder mit dem Pferd. Halteringe im Hof zeugen noch heute davon. Besonders nach einem Tierverkauf gönnten sie sich ein, zwei odere mehrere „Bullbier“. Werdende Väter taten Gleiches, während ihre Gattin im nicht weit entfernten Ambulatorium kreißte.
Der Gaststättenbetrieb wurde zu DDR-Zeiten als HO-Kommissionsgeschäft geführt. Das Personal bekam Gehalt, wurde aber auch mehrfach für gute Arbeit ausgezeichnet. In all den Jahren kümmerte sich Ilse Müller um die Küche und den Herbergsbetrieb. Aus der Gründerzeit bestand noch lange Jahre eine einfach gehaltene Übernachtungsmöglichkeit.
Nach einem langen arbeitsreichen Leben war es an der Zeit, die Geschicke in jüngere Hände zu legen. Die Wende bot dafür den äußeren Anlass und 1991 übernahm Tochter Christine mit ihrem Mann Frank Meißner die Gaststätte. Ilse und Rudolf Müller genossen nun ihr Rentnerdasein, halfen aber immer wieder noch mit, wenn sie gebraucht wurden. Rudolf Müller konnte nun seinem Hobby, der Fotografie, intensiver nachgehen. In der Dunkelkammer entwickelten beide ihre Fotos. Darunter auch die historisch bedeutsamen Glasplatten, die ihr Vater Gustav Hartrampf nach der Jahrhundertwende anfertigte und die nun auf Papier entwickelt wurden. Darunter eindrucksvolle Zeugnisse der Lübbenauer Stadtgeschichte. Ilse Müller lebt nun allein in den Räumen über der Gaststätte, nachdem ihr Mann 2010 verstarb. Sie nimmt regen Anteil an dem, was unter ihr im Geschäft und neben ihr auf der Straße geschieht. Sie sammelt und dokumentiert alles zu Lübbenau und zum Spreewald und ist stolz auf so manches regionale Zeitzeugnis.
Peter Becker/peb1, 10.12.13
Ilse Müller verstarb am 7. Januar 2017
Ehm Welk (1884 – 1966) lebte von 1935 bis 1940 in Lübbenau, Bruno H. Bürgel (1875 – 1948) war ein bekannter Schriftsteller, Astronom und Journalist
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