An sich ist das Ein- und Aussteigen in einen Kahn kein sonderlich großes Problem, es ist nur ein Schritt nach unten. Dieser eine Schritt ist für Menschen mit Rollstuhlbindung unmöglich zu realisieren. Manchmal werden diese von ihren Begleitern mit dem Stuhl in den Kahn hinein und später wieder hinaus gehoben – ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen für alle Beteiligten. Um den schon in jeder Hinsicht Benachteiligten einen sicheren und erlebnisreichen Kahnausflug zu ermöglichen, wurde 1993 in Lübben ein Spreewaldkahn in Dienst gestellt. Über eine Rampe konnte der Rollstuhlfahrer in den Kahn hinein und auch wieder hinaus fahren. Er hat die ganze Zeit die Kontrolle über sein Tun und ist nicht auf fremde Hilfe angewiesen. Das gibt Sicherheit und Vertrauen. Der Lübbener Fährmann Jürgen Hartmann steuerte den Kahn, der vom Lehder Karl Koal gebaut wurde. Mit seinen 9,65 Meter Länge und 1,95 Meter Breite gehört er zu den größten Kähnen, die je im Spreewald mit Sondererlaubnis verkehrten. Zusammen mit behindertengerechten Anfahrten und Kahneinstiegen, den Rampen und letztlich für den speziellen Kahn, kamen Kosten in Höhe von 20 000 DM zusammen. Die damalige Brandenburger Sozialministerin Regine Hildebrandt (1941 bis 2001) zögerte nicht lange und spendete aus ihrem gerade verliehenen Gustav-Heinemann-Preis 16 000 DM, als sie von der Idee hörte. Sie war es dann auch, die diesen Kahn im August 1993 einweihte, was dem Gefährt den (inoffiziellen) Namen „Hildebrandtkahn“ einbrachte. Jürgen Hartmann fuhr den behindertengerechten Kahn bis 2006. Dann wurde das Fahrzeug baufällig und musste stillgelegt werden. „Gerade die Behinderten sind es, die den Spreewald mit allen Sinnen erleben und zutiefst genießen,“ erinnert sich der Lübbener Fährmann an seine 13 Jahre auf dem Kahn. Und Hartmann war nicht nur der fürsorgende Fährmann schlechthin. Als geborener Spreewälder, aufgewachsen bei einem Kahnbauer, konnte er viel erzählen und noch viel mehr darüber singen. Der Musikhochschul-Absolvent ist ein Vollblutmusiker, der viele Jahre mit Bands durch die Lande zog. Mit seinem Gesang erheiterte er seine mit Handicap versehenen Fahrgäste. Seine Kahnfahrten waren für sie unvergesslich. Das brachte den für ihn angenehmen Nebeneffekt mit sich, dass viele jedes Jahr wiederkamen. Oft genug war daran die Bedingung geknüpft, nur mit „Jürgen“ fahren zu wollen.
Der 1943 in Sorau geborene Jürgen Hartmann kam bald nach Lübben, dem angestammten Wohnort seines Vaters Fritz. Der war als Tischler beim Kahnbauer Gebauer beschäftigt und machte in den 30igern mit seinen zum Segelboot umgebauten Spreewaldkahn auf sich aufmerksam. Damit segelte er die mehrmals die Oder abwärts bis Stettin. Die streng katholische Mutter hielt sich an das Gebot, eines ihrer Kinder „dem Herrn zuzuführen“. Da Jürgen das einzige Kind war, musste er jeden Morgen zum Ministrantendienst in die Kirche, noch vor der Schule. In einer atheistisch geprägten Umwelt wurde es ihm nicht leicht gemacht: Jürgen wurde kein Pionier und auch kein FDJler. Er verließ nach der achten Klasse die Schule und begann eine Maurerlehre. Wenn schon die Schule nicht zu den erfolgreichsten seiner Gebiete zählte, sollte es dann die praktische Ausbildung sein. Jürgen gewann mehrere Berufswettbewerbe und bekam nach dem Grundwehrdienst eine gute Stelle beim Verkehrsbaukombinat Magdeburg. Nach der Fertigstellung des Leipziger Flughafens ging es 1969 wieder zurück in die Heimat, nach Lieberose. Neben der Arbeit begann sich Jürgens musikalisches Talent auszuzahlen. In einer Familie groß geworden, in der Hausmusik eine große Rolle spielte, nahm die Musik auch in seinem Leben einen großen Raum ein. In vielen Band spielte er mit, den größten Erfolg hatte er mit der Cottbuser Profigruppe „mediant“: TV-Sendungen („Bong“), Rundfunkproduktionen, Erste Preise und Goldmedaillen begleiteten ihren Erfolg. Nach einem Studium bekam Jürgen den begehrten Künstlerausweis. Mit „Ecke & Co.“ tourte er dann noch bis zur Wende durch die Bezirke. Obwohl in keiner Partei, obwohl als Christ immer unter Beobachtung, schaffte er es dennoch bis ins Komitee für Unterhaltungskunst, dem Parteiinstrument zur Durchsetzung der Kulturpolitik. Nach der Wende wurde es auch für ihn, wie für viele andere Künstler, etwas ruhiger, die Auftritte wurden seltener. In diese Zeit fällt seine Tätigkeit als Kahnfahrer. Selbst schwerbehindert, wurde er vom Arbeitsamt, bei dem er sich arbeitslos gemeldet hatte, angeregt, für die Benachteiligten tätig zu werden – die Idee mit dem Behindertenkahn nahm Gestalt an. „Es waren 13 schöne Jahre. Ich war für andere da, war an der frischen Luft und konnte sogar noch meine Musik einbringen“, blickt er zurück. Heute fährt er immer noch Kahn, wenn auch nur noch selten. Den 40 Jahre alten Kahn seines Vaters hat er gerade wieder flott gemacht. Als Rentner geht er entspannt an das Tagwerk. Ihn freut es, wenn er hin und wieder mit seiner Country-Musik bei Familienfeiern gebucht wird. In seinem Haus in der Lübbener Jahnstraße, das er allein bewohnt, tönen immer wieder mal rockige Klänge nach draußen. „Ich muss ja in der Übung bleiben, die Finger dürfen nicht steif werden!“
Peter Becker/peb1, 06.03.13 |