Erwin Lieke

Erwin Lieke, Lübbenau

  • Miterbauer der Neustadt
  • Bauingenieur und Architekt

Erwin Lieke –  Bauingenieur mit Standvermögen


Der neunjährige Erwin erlebte 1945 die Ängste und Sorgen in der Familie und der Boblitzer Nachbarn aus nächster Nähe: Vor den heranrückenden russischen Front  flohen die Dorfbewohner am 19. April mit den Kähnen in den Spreewald und suchten sich eine Bleibe unter Bäumen und Büschen. Nur unter größter Vorsicht kamen sie gelegentlich zurück in die Häuser, um Verpflegung  und Sachen zu holen.
Im tiefen Spreewald unternahm er in diesen Tagen erste Kahnfahrversuche, auch um sich abzulenken. Das Wohnhaus an der Boblitzer Chaussee wurde im Mai wieder bezogen, das Hoftor wurde fortan, anders als früher, stets abgeschlossen. Zu allgegenwärtig war die Angst. Der Vater, ein Eisenbahner im Schichtdienst, betrieb mit seiner Frau Frieda nebenbei eine kleine Landwirtschaft, nach Kriegsende kam noch Bodenreformacker hinzu. Wenn Heu und Gras in Semisch (bei Leipe) von der Wiese geholt wurde, durfte Erwin dann schon häufiger mit dem Kahn fahren – eine „Fahrschule“ unter Vaters Aufsicht.
Ab Sommer 1945 funktionierte wieder der Schulbetrieb in Boblitz, wenn auch nach Moskauer Zeit, die erst im Oktober wieder abgeschafft wurde. Eigentlich sollte Erwin ab 1950 die  Oberschule in Calau besuchen, aber der  Vierzehnjährige wollte er erst einmal Geld verdienen und ging, wie sein Vater, zur Deutschen Reichsbahn. Der hatte sich inzwischen vom Gleisbauarbeiter zum Lokdienstleiter im Bahnbetriebswerk hochgearbeitet.

Vom Eisenbahner zum Bauingenieur


Nach der Ausbildung zum Betriebs- und Verkehrseisenbahner ging Erwin als Aufsicht auf den Bahnhof Brand. Sein erstes Gehalt: 272 Mark, netto. Bei Brand bauten die Russen einen Flugplatz (heute Tropical Islands), mit entsprechend viel Verkehr auf dem Bahnhof des kleinen Ortes. Später arbeitete er als Fahrdienstleiter in papitz, bei immer noch gleichen Gehalt. Seine Kumpels, inzwischen Schlosser oder Maurer, verdienten da schon 400 Mark. Immer mehr verfestigte sich daher bei ihm der Wunsch nach Veränderung. Bei der Eisenbahn sah er wegen der geringen Verdienstmöglichkeiten keine Zukunft für sich.
Es folgte eine Maurerlehre, die er im Februar 1957 abschloss. In der Brigade Spill mauerte er in Lübbenau in der „Papageiensiedlung“ (Straße des Aufbaus) mit. Vom Herbst 1957 bis Juli 1960 studierte er an der Fachschule für Bauwesen in Zittau und wurde Bauingenieur im konstruktiven Ingenieursbau.
Wieder in Lübbenau, bei der Bau-Union Cottbus, assistierte er Bauleiter Franke eine Zeit beim Bau von Fernheizleitungen. Später übernahm er das Betonwerk für Plattenwohnungen als Bauleiter. Für das schnellere Erhärten der Betonelemente lieferte eine alte Dampflok neben der Lindenallee den heißen Dampf über eine Dampfzuleitung. Das Beheizen funktionierte zwar im Wesentlichen, aber Kies, Zement, Bewehrungsstahl fehlten mal abwechselnd, mal gleichzeitig. „Unter solchen Bedingungen kann niemand lange arbeiten, auch ich nicht, denn trotz meiner Hartnäckigkeit konnte ich nichts an dem Zustand ändern“, blickt er heute zurück.
Inzwischen zählte Erwin Lieke, wie viele anderen Erbauer der neuen Kraftwerkerstadt, auch zu den Glücklichen in der damaligen DDR, die eine Neubauwohnung, noch dazu als Erstbezieher, bekamen. Mit seiner Margit, einer Lehrerin, bezog er 1961 im Jahr der Eheschließung seine Traumwohnung mit Fernwärme und Warmwasserversorgung in Lübbenau. Kennengelernt hatte er die Boblitzerin schon viel früher. „Als Kind brachte ich in Boblitz nach dem herbstlichen Schweinschlachten immer mal Wurstbrühe und Grützwürste zu Leuten, die uns gelegentlich halfen. Die Schusterstochter hat mir schon immer gut gefallen, da bin ich jedes Jahr gern hin“, kann er sich noch gut an diese Zeit erinnern.
Es folgten die Kinder Arno und Maren, die beide in elterliche Fußstapfen traten: Arno arbeitet beim Stadtbauamt in Heidelberg, Maren ist Lehrerin am Gymnasium in Rangsdorf.

Mal zu viel, mal zu wenig Wasser


Durch die Grubenwasserabsenkung mussten Wasserwerk-Druckerhöhungsstationen und Wassertürme gebaut oder erweitert und Trinkwasserleitungen zu den Ortschaften gelegt werden. Denn dort begannen die Brunnen zu versiegen. Sein Büro war nun im Wärterhaus der Kläranlage Lübbenau. Zwischendurch projektierte er ein eingeschossiges Bürogebäude mit Werkstatt für diesen Betrieb. Acht Jahre lang musste er von Lübbenau aus auf der Grundlage der Gebiets,- Stadt-und Dorfplanungen die Wohnungskomplexe in Vetschau, Lübbenau WKII, Luckau, Mühlberg, Guben, Cottbus-Ströbitz, Lübben und diverse Einzelstandorte in den Dörfern mit allen technischen Erschließungen bearbeiten.
Es war eine Zeit regen Schaffens an vielen Bauprojekten in den Wohnkomplexen. Auch als Bauleiter für die italienische Botschaft in Berlin wurde er tätig. Dazwischen immer wieder Bauten in seiner Heimatstadt. Beim Bau der Schwimmhalle, dem heutigen Delphin-Bad, der damaligen „Volksschwimmhalle“, zeigte er eine unkonventionelle Vorgehensweise: Er fuhr nach Leipzig, zu einer schon existierenden etwa baugleichen Schwimmhalle und befragte den Hausmeister bis ins Detail, denn der musste die Schwachstellen kennen wie kein anderer. Mit diesen Hinweisen konnten Fehler beim Bau der Schwimmhalle vermieden werden. Die Hyperbel-Spannbeton-Dachschalen ließen sich allerdings offiziell gar nicht beschaffen. Mit einer versprochenen Kahnfahrt in den Spreewald konnte Erwin Lieke die Betonwerksarbeiter in Ludwigsfelde „bestechen“. Sie fertigten die geschwungenen Dachschalen nach Feierabend und bekamen natürlich auch noch eine ordentliche Prämie.
Erwin Lieke war auch als Bauingenieur für den Aufbau der Industriewäscherei Lübbenau zuständig. Die für die Unterkellerung notwendige Grundwasserabsenkung des mehrgeschossigen Gebäudes ließ plötzlich den Grundwasserzufluss zu den Rohwasserbrunnen des Wasserwerkes an der Berliner Straße versiegen. „Über Nacht“ wurde eine 400 Meter Stahlrohrleitung quer durch die Neustadt gelegt, um das gehobene Grundwasser dorthin zu leiten. Die Erkenntnis damals, die nicht in Vergessenheit geraten darf: Unter der Lübbenauer Neustadt befindet sich ein Grundwasserstrom.
Um hässliche Baracken-Bauten für die Bauarbeiterverpflegung zu vermeiden, projektierte er die vorhandene „Holzoper“ für die neue Nutzung um. Nach dem Rohbauende der Wäscherei wechselte er ins Kraftwerk, Reparaturbereich  Bau und lernte dort betriebstechnologische Dinge kennen.  Anfang 1981 bot sich ihm die Gelegenheit, im Kraftwerksgelände Vetschau in die Industrieprojektierung zu gehen. Ab Januar 1988 übernahm er beim Vorgänger des heutigen Wasser- und  Abwasserzweckverbandes Calau die Investitionsvorbereitungen, Preisprüfungen, Investplanungen und Vermessungen. Zeichnerische Arbeiten und Schreibarbeiten wurden dort nur schlecht und schleppend erledigt, was zu Spannungen im Betrieb führte und auch zu Absetzungen von Leitungsfunktionären. In der Folge wurde auch Lieke gekündigt, völlig zu Unrecht, wie er fand. Beim Arbeitsgericht hatte er mit einer Klage Erfolg und der Betrieb wurde zur Nachzahlung entgangenen Lohnes verurteilt. Eine Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb lehnte er dennoch kategorisch ab. Im örtlichen Baubetrieb von Schulen-Wiese arbeitete er bis zur Rente 1996 als technischer Betriebsleiter, der auch die Projekte selbst erarbeitete und den Bau von Ein- und Mehrfamilienhäusern überwachte.

Unruhige Rente


Als Mitglied der Brandenburgischen Ingenieurkammer wurde er öfter von Bauwilligen um Hilfe gebeten, unter anderem auch beim Ausbau eines Stallgebäudes zu Ferienzimmern an der Dubkow-Mühle. Dieser Standort ist schon seit über 300 Jahren bebaut. Obwohl im Biosphärenreservat gelegen, wurden die Bestimmungen für den Außenbereich falsch interpretiert. Nur durch öffentliche Darlegungen in einem Leserbrief  konnte er dem „Bauverhinderungsamt“, wie er boshaft die Behörde nennt, die Genehmigungsfähigkeit nachweisen.
Obwohl schon seit 15 Jahren Rentner,  denkt er gar nicht an den Ruhestand. Er mischt sich ein und lässt nicht locker, wie am Eisenbahn-Nordkopf Lübbenau. Hier wird von den Planträgern nach seiner Lösung eine Straßenunterführung zwischen zwei Kreisverkehren geplant.
Mit seiner Frau ist er jetzt viel auf Reisen, beide kennen inzwischen viele Länder. „Bis 80 will ich noch reisen, dann könnte man vielleicht damit aufhören. Meiner Frau Margit bin ich jedenfalls sehr dankbar, gemeinsam besuchen wir die Welt. Sie hat es sich verdient, denn sie hat mich schon das ganze Leben aushalten müssen, was bestimmt nicht immer einfach für sie war“, blickt er auf ein Leben vollgefüllt mit Arbeit, Kampf gegen Widerstände und Mangelwirtschaft zurück. „Ich bin stur, aber nicht weil ich es gern bin, sondern weil es in der Sache etwas voran bringen kann“, schätzt er seine herausragendste Charaktereigenschaft ein.


Peter Becker/peb1, 20.07.2011

Fotoalbum Lieke, Erwin

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