Martin Schmidt

Martin Schmidt, Burg

Er lebt und wohnt immer noch am gleichen Ort, seit 73 Jahren. Martin Schmidt hat von seinem Vater den Hof geerbt, so wie dieser es von seinem Vater und der von den Vorvätern übertragen bekam. Einer dieser Vorfahren erhielt vom Preußenkönig Grund und Boden im Burger Umland zugewiesen - er gehörte zu den vielen Kolonisten, die der Gegend zwischen Burg Dorf und Leipe ihren Namen einbrachten: Erste Kolonie. Martin Schmidt hat nun selbst schon seinen Hof ganz der Familientradition entsprechend an seinen jüngsten Sohn vererbt. Zwei seiner drei Söhne wohnen mit ihren Familien auf dem weiträumigen Gelände, wo es viel Platz für alle gibt. Kein Zaun grenzt den Blick ein, vom Hof geht es nahtlos in die Wiesen über. Nur der „Mehrfamilienhund“, wie Martin Schmidt ihn wegen der Fürsorge aller Hofbewohner nennt, scheint die Grenzen zu kennen, denn er geht nie weiter als einige Dutzend Meter vom Haus weg, obwohl er alle Freiheiten hätte. Den Schmidt-Vorfahren widerfuhr damals das große Glück, ihre Wiesen und Felder unmittelbar am Haus vermessen zu bekommen, es waren die so genannten „Buschmorgen“. Dieses Zugeständnis machten die Preußischen Bodenverwalter demjenigen, der auf eine Waldnutzung verzichtete und wohl auch demjenigen, der sie bei ihrer Arbeit gut bewirtete, wie es sich nach der Familienüberlieferung wohl auch zugetragen haben soll. „Anders als andere brauchten wir keinen Kahn, wohl aber gute Schubkarren, um das Gras oder Heu von den oft nassen Wiesen zu holen“, erinnert sich Schmidt. Und er musste wie seine drei Geschwister schwer arbeiten, ohne die Mitarbeit der Kinder wäre der Hof nicht zu bewirtschaften gewesen – ein ganz normaler Zustand zu damaligen Zeit, allen erging es so. Bei Schmidts war es allerdings besonders schwierig, denn der Vater war krank und die Mutter verstarb früh. Der bei Mutters Tod gerade Elfjährige musste in der „Männerwirtschaft“, wie er die Zeit bezeichnete, eben auch mannhaft ran. Unterstützung gab es nur vom ukrainischen Zwangsarbeiter Alex und von der selbst noch kindhaften Magd Henriette, zu der dann lebenslang ein familiäres Verhältnis bestand. „Menschlichkeit ging uns immer vor“, erinnert sich Martin Schmidt an die schweren Kriegsjahre. „Es war ganz selbstverständlich, dass Alex mit am Tisch saß, obwohl es behördlich verboten war.“ Diese Form der Menschlichkeit und der Fürsorge zahlte sich besonders im April 1945 aus. Aus einem Cottbuser Fleischereibetrieb kamen Ukrainer, ehemalige Zwangsarbeiter, die sich auf dem Weg in Richtung Heimat befanden. Bei Schmidts fanden sie erst mal eine Bleibe, um die heranrückende Front abzuwarten. Die mitgebrachten Schweinehälften sicherten das Überleben aller, auch der inzwischen auf 60 Personen angewachsenen deutschen Flüchtlinge. Die ankommenden russischen Truppen ließen den Hof eigentlich unbehelligt, sehr schnell hatten die Ukrainer dafür gesorgt, dass den Schmidts nichts geschehen soll. „Dennoch gab es beim Durchgang der Front einen schrecklichen Vorfall, den ich nicht vergessen werde“, berichtet Martin Schmidt immer noch sehr bewegt. „Es fiel nur ein einziger Schuss, der aber traf einen Mann und eine Frau, die direkt hinter ihm stand, tödlich. Warum wurde geschossen, wer hat geschossen? Es war nicht in Erfahrung zu bringen, weshalb die beiden sterben mussten. Ich sehe noch heute die Stelle hinterm Hof, wo die Leichname notdürftig beerdigt wurden. Und obwohl nur kurze Zeit später exhumiert, mache ich immer noch einen Bogen um diesen Platz – solch ein schreckliches Kindheitserlebnis vergesse ich  nie!“
Nach einer kurzen kriegsbedingten Unterbrechung wurde der Unterricht in der Kolonie-Schule wieder aufgenommen. Er erfolgte wie in vielen kleinen Dorfschulen in nur zwei Klassenräume, gemeinsam mit älteren und jüngeren Jahrgängen. „Ich habe gemerkt, das Lernen Spaß macht, besonders auch das Lesen. Um mir dafür während der Hofarbeit ein paar freie Minuten abzuknapsen, bin ich öfters auf unser ‚stilles Örtchen‘ hinter dem Haus gegangen. In den Dachsparren hatte ich mir Romane und Zeitungen versteckt, die ich heimlich verschlang.“ Martin hätte sich auch einen anderen Beruf vorstellen können, als den des Landwirts. Aber ganz der Tradition folgend übernahm er 1959 anlässlich seiner Hochzeit mit Elsbeth den Hof. Um ihn allerdings bald wieder in die gerade gegründete Genossenschaft einzubringen. Anders als viele Einzelbauern sah er Vorteile in der gemeinsamen Bewirtschaftung. Bald wurde er Technik-Brigadier und stellvertretender LPG-Vorsitzender.
Martin Schmidt war als belesener Mensch schon immer offen für alles Neue und hielt auch mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. In einer traditionellen Woklapnica* hatte er als gerade Sechzehnjähriger schon das erste Mal das Wort ergriffen.  Viele Jahre später, 1967, tat er das wiederum so überzeugend, dass ihm vom Kreis kurz darauf der Bürgermeister-Posten angeboten wurde. „Warum nicht? Vom Traktorsitz in den Bürgermeistersessel – ich liebe Herausforderungen“ – und nahm an. „Gern erinnere ich mich an die vielen Gespräche mit Marianna (Minna?) Witkojc, der wendischen Poetin, die mich häufig im Büro aufsuchte. Wir unterhielten uns in der Sprache meiner Kindheit, in Wendisch. Es war auch das letzte Mal, dass ich in der Sprache meiner Eltern und Großeltern gesprochen habe. Inzwischen beherrsche ich diese leider nicht mehr.“
Bis auf eine kurze Unterbrechung 1989, bedingt durch „unüberbrückbare Differenzen“ mit der Kreisverwaltung in der schon untergehenden DDR, hatte er diesen Posten inne. Bei der Kommunalwahl 1993 wurde er, der auch in den Wendejahren immer Gemeindevertreter geblieben ist, auf Anhieb wiedergewählt. „Nun muss ich noch bis 2014 durchhalten, erst dann möchte ich mein Amt in jüngere Hände legen“, blickt er in die Zukunft. Er hofft auf Gesundheit, denn die schweren Kinder-Arbeitsjahre haben ihre Spuren hinterlassen und fordern ihren Tribut. Jetzt bleibt ihm auch etwas mehr Zeit zum Lesen. „Neben Romanen und Biografien lese ich zum Erstaunen vieler gern meine eigenen Berichte längst vergangener Jahre. Manchmal muss ich dann über mich lachen, manchmal auch im Nachhinein noch ärgern. Dennoch ist es faszinierend zu sehen, wie der zeitliche Abstand die Dinge von damals in ganz anderem Licht erscheinen lässt.“
*Das wendische Wort „woklapnica“ wird von „woklapaś/hoklapaś“ = (vor)dreschen, abklopfen abgeleitet. Seit hunderten Jahren ist es im Spreewald Brauch, dass sich Neuankömmlinge mit Geld in die Gemeinde „einkaufen“. Dieses wird meist für einen kleinen Umtrunk genutzt. Wer im Dorf dazu gehören will, darf nicht zimperlich sein und sollte sich aus gemeinschaftlichen Unternehmungen nicht allzu oft raushalten. Dafür darf jeder in der Einwohnerversammlung die Gemeindevertreter „abklopfen“ und sie zur Rechenschaft bitten. Diese Veranstaltung ist keine Protokollveranstaltung, jeder darf reden und sagen, was ihn bewegt. Sie findet ganz traditionell zum Jahresanfang um den 6. Januar herum statt, dem Fest der heiligen drei Könige.

Peter Becker, 18.10.10

Nachtrag: Martin Schmidt trat 2011 aus gesundheitlichen Gründen von seinem Bürgermeisteramt zurück. Geichzeitig wurde Vorwürfe der Zusammenarbeit mit dem ehemaligen MfS geäußert. Martin Schmidt verstarb am 14.06.2012.

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