Tiefstes Erzgebirge, Forchheim: Dem Mühlenpächter Karl Oelmann wird 1950 ein Sohn geboren, Michael wird er heißen. Schwester Käte kam schon fünf Jahre früher zur Welt, aber da war der Vater noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Er war einer der wenigen Überlebenden des Stalingrader Kessels, erst 1949 kam er heim. Nach Michael Oelmann kam zwei Jahre später noch Andreas, der heute Lehrer ist. Die Eltern leben noch, sie hatten kürzlich die Gnadenhochzeit, nach 70 Ehejahren. Im dörflichen Milieu aufgewachsen, erinnert sich Michael an eine glückliche Kindheit inmitten der Natur und in einem aufgeschlossenen Elternhaus. „Lesen war meine Lieblingsbeschäftigung, mit den Zahlen hatte ich es eher nicht so. Ich habe alles verschlungen, was lesbar war. Zwischen Schund und Literatur lernte ich erst später zu unterscheiden“, blickt er zurück. Folgerichtig seine Berufswahl: In Olbernhau lernte er Buchdrucker, mit Büchern wollte er zu tun haben. Kaum ausgelernt und ein paar Monate gearbeitet, wurde er zum Grundwehrdienst einberufen. Bei den motorisierten Schützen in Marienberg leistete er seine 18 Monate ab. „Die Spatenkrieger, die Wehrdienstverweigerer, wären nicht so mein Ding gewesen, obwohl ich lange nachgedacht habe. Letztlich waren sie genauso ins System integriert wie wir alle“, so seine Auffassung. Michael Oelmann hatte schon frühzeitig Fragen stellen gelernt. Er war im Kinderkirchenchor seines Heimatortes und ging bei Beerdigungen mit dem Vortragekreuz voran. Hier begann der belesene Junge immer öfter über den Sinn des Lebens und über Gott nachzudenken. „Warum musste die junge Frau sterben? Warum wird der kranke alte Mann nicht von seinen Leiden erlöst? Warum straft Gott so unerbittlich? Warum geht es ungerecht auf der Welt zu?“ Fragen über Fragen, die ihn grübeln ließen. Sie ließen ihn auch nicht in Ruhe, als er längst mit dem Ingenieurstudium Drucktechnik in Leipzig fertig war und am Institut für Information der Landwirtschaft in Berlin arbeitete. Es trieb ihn an, die Welt zu verstehen, die eintönige Verlagsarbeit lag ihm nicht. „Mach ‚s doch!“ munterten ihn die Freunde auf, „studier doch Theologie!“ Michael Oelmann nahm den eher hingeworfenen Satz ernst, sehr ernst. Für ihn schien es das genau Richtige zu sein – ein Wagnis, dass sich im Leben zu wagen lohnt. Nach dem Studium wurde er in den Dörfern um Ilsenburg 1980 als Pfarrer eingesetzt. Neun Jahre lang war er im Dienst der evangelischen Kirche dort für die Menschen seelsorgerisch tätig. In dieser Zeit scheiterte seine Ehe, die Kirchenleitung trug ihm an, sich woanders umzusehen. So weit ging die Toleranz der Kirche dann doch nicht, einen geschiedenen Pfarrer im Kirchenkreis zu behalten. In den Stellenausschreibungen las er, dass in Zerkwitz/Lübbenau eine Pfarrstelle frei wird. Lübbenau im Spreewald, so auf halber Strecke zwischen Berlin und Dresden – das ist doch eine gute Gelegenheit, dem Harz den Rücken zu kehren. „Das Evangelium lehrt das Suchen eines neuen Weges – warum sollte ich es nicht auch auf meine Person beziehen und einen Neuanfang wagen?“
Das Suchen neuer Wege sollte sich auch bald in seiner seelsorgerischen Arbeit niederschlagen: Im Lübbenauer Ortsteil Zerkwitz hat er, dem wendischen/sorbischen Brauchtum aufgeschlossen gegenüberstehend, 1998 das Osterreiten wiederbelebt. Ein Landwirt aus der unmittelbaren Kirchennachbarschaft, Jürgen Sergel, trat an ihn heran und regte das Osterreiten an. Michael Oelmann hatte es damals nicht leicht, seiner Kirchenleitung zu erklären, dass er diesen Jahrhunderte alten heidnischen und zuletzt katholischen Brauch als missionarische Chance aufnehmen wollte. Er konzipierte das Osterreiten als ein Fest mit evangelischer Prägung, als ein Fest des Zusammenkommens, des Innehaltens und des Neuaufbruchs. Er hatte es auch nicht leicht, die Spreetaufe seiner Kirchenleitung zu erklären. Neue Wege gehen… - etwas, was sich leicht predigen, aber nicht immer leicht umsetzen lässt. Die konservativen Kollegen galt es ebenso zu überzeugen, wie die Kirchenleitung. Eine Taufe außerhalb der Kirche - das überstieg und strapazierte das Vorstellungsvermögen Einzelner. Inzwischen ist das Taufen mit Spreewasser üblich geworden. Der Pfarrer steht bis zum Oberschenkel im Wasser, Vater oder Mutter ebenso. Sie oder ein Pate halten das Kind und lassen es mit Spreewasser taufen. Die Abläufe gleichen denen in der Kirche, der Unterschied ist gering und der Örtlichkeit geschuldet.
Inzwischen hat Pfarrer Oelmann den Segen seiner Vorgesetzten, das Osterreiten und die Spreetaufe sind etabliert und nicht mehr im Jahreslauf wegzudenken. Michael Oelmann sieht sich und seine Kirche im ruhigen Fahrwasser, schon im nächsten Jahr soll es noch ruhiger werden. Dann, wenn er aus dem Kirchendienst ausscheidet und Rentner ist. So richtig kann er sich das nicht vorstellen: „Ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zu meinem Dienstende, dass nicht einhergeht mit dem Ende des Dienstes am Menschen. Ich werde weiter das tun, was ich Jahrzehnte getan habe – den Menschen helfen“, formuliert er seine Gedanken zur nahen Zukunft. Er sieht sich dann vielleicht als Reisepfarrer, als Kirchenführer oder in einer ähnlichen Funktion. Die Entpflichtung als Pfarrer ist für ihn keine Entpflichtung als Dienender. Bei seinen stundenlangen Waldspaziergängen mit oder ohne Lebensgefährtin Gabi Goin, bei der Arbeit im Garten – immer öfter denkt er über diese Zukunft nach und kann sich noch nicht so richtig darin wiederfinden. Ablenkung bot und bietet ihm die Mitarbeit im Kittlitzer Chor, im Ragower Radfahrverein, früher noch bei den Keglern. Mitten unter den Menschen fühlt er sich wohl. Manchmal kommen seine zwei längst erwachsenen Kinder, dann geht es in den Spreewald, dann sind ein paar Sorgen vergessen, die Zeit scheint angehalten.
Peter Becker/peb1, 25.03.14
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