Kein Baum zu hoch, kein Dickicht zu dicht, um nicht vom Forscherdrang des jungen Winfried Böhmer erobert zu werden. Der in Hörnitz bei Zittau Aufgewachsene musste in jedes Nest schauen um zu wissen, welche Vogelart dort brütete und wie viele Eier drin lagen. „Meine Eltern wussten viel über Natur und Pflanzen, sie haben mich neugierig gemacht. Bei unseren Arbeiten im Wald und auf dem Feld gab es täglich Neues zu entdecken und zu erforschen“, erinnert sich Böhmer. Er ist überzeugt davon, dass das Interesse an solchen Dingen in der Kindheit geprägt wird und ein Leben lang anhält. Sicher ein Grund dafür, dass er später in Vetschau viele Jahre eine Arbeitsgruppe Tourismus und Naturschutz in einer Schule leitete. „Umwelt und Natur liegen mir am Herzen, sie sind mein Leben und die Lebensgrundlage aller Menschen, leider ist sich nicht jeder dieses Umstandes bewusst.“
Nach seinem Ingenieur-Studium war er im Kraftwerk Vetschau als Elektrotechniker tätig. Bald stieß er eindringlich auf Konflikte zwischen Technik und Natur. „Mein Schlüsselerlebnis war der Tod von 41 Störchen an einer Stromleitung!“ Dem Vogelfreund blutete das Herz angesichts der Gedankenlosigkeit der Funktionäre in der DDR-Energiewirtschaft, denen Stromerzeugung um jeden Preis über alles ging. Angesichts umgegrabener Landschaften durch Kohleabbau erschien denen der Schutz der Vogelwelt als ein untergeordnetes Problem. Nicht so bei Böhmer: Hoch engagiert wirkte er im Arbeitskreis „Weißstorchschutz“ mit und erreichte mit seiner Gruppe, dass neue Stromleitungen mit hängenden Isolatoren gebaut werden. Die bis dahin üblichen stehenden Isolatoren bergen eine große Gefahr für Vögel, die gerne auf den Traversen sitzen und die frei zugänglichen Leitungen berühren können. Vogelunfälle waren an der Tagesordnung – wohl sicher auch ein Grund, weshalb die Energiewirtschaft schließlich einlenkte und jetzt Schutzhauben auf die Isolatoren setzt. Nach der Wende bekam Böhmer für diese Leistung den „Europäischen Umweltpreis“ verliehen.
Seine Kontakte zum Naturschutzbund (NABU) schon vor der Wende ermöglichten einen nahtlosen Übergang in die bundesdeutschen und nun auch gesamtdeutschen Wirkungsfelder. Immer noch leicht amüsiert erinnert er sich an eine erste Arbeitstagung in Stuttgart. „Ich fuhr mit 200 DM in der Tasche und zwei Kanistern Benzin im Wartburg dorthin, schließlich hatte nicht mehr „Begrüßungsgeld“ zur Verfügung. An der Hotelrezeption erfuhr ich, dass die Übernachtung allein 170 DM kostet – ein Schock für mich. Ich leistete mir zum abendlichen Treffen nur ein Bier und das billigste Essen. Alle anderen waren da weniger zurückhaltend. Als gegen 22.00 Uhr der örtliche Energieversorger wissen ließ, dass er bis dato die Kosten übernimmt und ab jetzt jeder selber zahlen muss, hätte ich mich am liebsten dahin gebissen, wo ich nicht hinkam!“
In zahlreichen Arbeitsgruppen des NABU arbeitete Böhmer in der Folgezeit mit und war entscheidend am Aufbau des Weißstorchzentrums der Niederlausitz beteiligt. Aktuell vertritt er den NABU in einer Projektgruppe mit Netzbetreibern und dem Bundesumweltministerium für neue, verbindliche Regeln zum Vogelschutz an Freileitungen. Bei der Deutschen Umwelthilfe vertritt er Naturschutzbelange im Forum Netztechnik, wo es um den Ausbau der Elektrischen Netze für die Erneuerbaren Energien geht. Sein Vorteil ist sein Wissen als Elektrotechniker, dagegen kommen die Energiemanager mit ihren häufigen Ausflüchten nicht so leicht an. Streitbar und kompromisslos erwirkt er Schritt für Schritt Verbesserungen. „Mir war und ist klar, dass ich allein in solchen Arbeitsgruppen, so notwendig sie auch sind, nicht so viel bewirken kann, wie in einer politischen Verantwortung. Meine Mitgliedschaft im Wendejahr in der ‚Grünen Partei der DDR‘, die später mit den West-Grünen und dem Bündnis 90 fusionierte, war mehr als folgerichtig“, blickt Böhmer zurück. So konnte er als Mitarbeiter der bündnisgrünen Bundestagsfraktion an der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes mitwirken und erstmalig einen Paragraphen zum Vogelschutz an Freileitungen einbringen. Als Leiter des Grünen Bürgerbüros Cottbus war er auch für den Wahlkampf zuständig und organisierte einmal dem Spitzenkandidaten Joschka Fischer einen Auftritt in Cottbus. Fischers Ambitionen und die seiner Begleiter waren aber auch sportlicher Natur, denn an jedem Wahlkampfort wurde ein Lauf durchgeführt. „Um einem Journalisten die vergessenen Turnschuhe rechtzeitig zum Start zu bringen, bin ich schon mal etwas schneller gefahren als erlaubt. Eine Polizeistreife stellte mich, fuhr dann aber nach Klärung des Sachverhalts mit Blaulicht vorneweg und ich mit den Turnschuhen hinterher.“ Noch heute muss er über solche Begebenheiten am Rande der politischen Arbeit lächeln, sie sind es aber auch, die den stressigen Job ein wenig aufleuchten ließen. Inzwischen konzentriert er sich wieder mehr auf seine Arbeit als Stadtverordneter in Vetschau und als Abgeordneter des Kreistages OSL. Streitbar wie eh und je stellt er in den Gremien seine Sicht auf die Dinge dar und bietet hier und da schon mal eine Angriffsfläche für seine politischen Gegner. Das Abnicken von Beschlüssen ist sein Ding nicht, er hinterfragt und stößt nach.
Seine beiden Kinder gehen nicht seinen Weg, obwohl sie dem Naturschutz ebenso aufgeschlossen gegenüber stehen. Tochter Olivia ist Psychologin und Sohn Christian ist Informatiker geworden. Der Rentner Winfried Böhmer investiert nun auch viel Zeit in seine vier Enkel und es gilt wohl als gesichert, dass diese mit dem „grünen Blick“ ihres Großvaters aufwachsen werden. Obwohl eigentlich schon längst im Ruhestand, kümmert sich Böhmer nach wie vor um Politik und Naturschutz. So manch politischer Kontrahent hat wohl immer noch das rollende „R“ im Ohr, das die Oberlausitzer Herkunft verrät und bekommt es immer wieder neu zu hören. Böhmer lässt erst locker, wenn etwas erreicht wurde.
Peter Becker, 14.08.10
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